Let our affair be a gay thing (2)

betr.: Das Musical als schwule Kunstform für alle

Fortsetzung vom 25. Juni 2024

Der Komponist / Texter Jerry Herman (1931-2019) zählt gerade noch zu den Vertretern dieser ersten Blütezeit (obwohl der frühere seiner Welterfolge bereits in die Zeit des Niedergangs fällt, in die 60er Jahre, als das Musical seinen Stellenwert als Lieferant der wichtigsten Popsongs einbüßte).
Als Herman 1983 mit „La Cage Aux Folles“ herauskam, brach gerade eine neue Ära an: das Musical startete durch die gemeinsamen Erfolge des „Komponisten“ Andrew Lloyd Webber und seines Produzenten Cameron Mackintosh in seinen zweiten Frühling (wenn auch unter derartig veränderten Vorzeichen, dass ich die Findung eines neuen Genrebegriffs begrüßen würde*).
„La Cage Aux Folles“ ist noch ein Musical alten Stils (also der Prä-Webber-Epoche), leistet sich aber eine ins Heutige weisende Besonderheit: die Hauptfiguren (fast alle!) sind offen homosexuell. Zwar thematisiert das Libretto durchaus die bestehenden gesellschaftlichen Vorurteile und Vorbehalte – alles andere wäre auch lächerlich gewesen, selbst in der Traumwelt des Musicals. Doch dem Publikum wird sich so schamlos und selbstverständlich hingehalten, dass der Hit der Show „I Am What I Am“ schlagartig zum Signature-Song beinahe sämtlicher Travestie-Künstler wurde und der Schwulenbewegung als Hymne wie gerufen kam. Die 1985 uraufgeführte deutsche Fassung von „La Cage Aux Folles“ überholte Hermans 20 Jahre alten Klassiker „Hello Dolly!“ rasch an Beliebtheit, was (für Jerry Hermans Verhältnisse) keineswegs an der Qualität des musikalischen Materials lag. Das Werk war so etwas wie ein Zeitstück. Es war zur rechten Zeit gekommen, um der noch versteckt lebenden schwulen Community (die zudem gerade politisch wie gesundheitlich unter den Verwerfungen der AIDS-Krise schmachtete) ein Volksstück zu sein. Gleichzeitig war die Show schmissig, amüsant und harmlos genug, um auch dem bürgerlichen Lager zu gefallen. „La Cage Aux Folles“ überließ es den Zusehern, ob sie mit den schrillen Homos auf der Bühne lachen wollten oder über sie. Insoweit knüpfte es an den oben geschilderten subtextuellen Charakter nicht-heterosexueller Show-Inhalte durchaus an.
Die Schwulenbewegung hat diesen Aspekt zunächst begreiflicherweise übersehen bzw. missverstanden.

Ich erlebte den Erfolg von „La Cage Aux Folles“ 1986 in Saarbrücken, einer wenig besuchten deutschen Hauptstadt, die Mitte der 80er Jahre über eine erstaunliche Vielzahl von Schwulen- und Künstlerkneipen verfügte. Die örtliche Schwulengruppe kam auf die Idee, sich nach der Vorstellung vor der Alten Feuerwache (dem „kleinen Haus“ des Saarländischen Staatstheaters) zu postieren und dem „Cage“-Publikum mit lustigen Hüten und informativen Flugblättern einen Denkanstoß zu geben, nach dem Motto: Da Sie ja offensichtlich Schwule mögen, schaun’ Sie doch mal her: es gibt uns wirklich und ganz in Ihrer Nähe …
In einer konservativeren Gegend hätte es vielleicht sogar Ärger gegeben, in Saarbrücken ernteten die Aktivisten nur unverbindliche Ratlosigkeit, und die Aktion versandte.
Dass nicht jeder, der Schwule auf der Bühne lustig findet, sie auch persönlich schätzt, gilt bis heute, wenn sich das gesellschaftliche Klima unterdessen auch zeitweilig gebessert hat.
Ich hatte den mageren Effekt der Info-Aktion vorausgesehen (und wohlweislich die Klappe gehalten, um nicht als Miesmacher dazustehen). Doch auch ich sollte mich gründlich vertun. Nicht in bezug auf das Publikum, sondern hinsichtlich der Darsteller.
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* Siehe https://blog.montyarnold.com/2024/06/18/25528/

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