Die schönsten Filme, die ich kenne (80): „Der Komödiant“

England um 1955. Der gealterte Music-Hall-Conférencier Archie Rice tritt in einem englischen Seebad auf.  Die Ehe mit seiner hochneurotischen Frau Phoebe ist eine Qual für beide und für die drei herzensguten erwachsenen Kinder Frank, Jean und Mick. Auch in besseren Tagen war Archie nie so souverän und erfolgreich wie sein Vater, der etwas klapprige aber fröhliche Billy.
Mick wird an die Front geschickt, Jean, die sich in sozialen Projekten engagiert, beobachtet mit Grausen, wie ihr Vater einer 19jährigen den Hof macht, der Zweitplatzierten einer von ihm moderierten Schönheitskonkurrenz. Archie verspricht dem Mädchen eine Revuekarriere und bringt ihre reichen Eltern dazu, seine nächste Produktion zu finanzieren.
Als Jean ihrem Großvater davon erzählt, hintertreibt er die Verbindung, indem er die Eltern des Mädchens darüber aufklärt, dass Archie keineswegs Witwer ist. Die Produktion, die Archie bereits angekurbelt hat, platzt. Der alte Billy, der die Folgen seines Handelns nicht vorhergesehen hat, lässt sich zu einer Rückkehr auf die Bühne überreden. Das wird ihm nicht gut bekommen …

Hauptdarsteller Laurence Olivier wird häufig als größter Schauspieler seiner Zeit bezeichnet. Er schaffte es, diesen Status auf dem Theater zu erwerben und ihn in einer sehr langen internationalen Filmkarriere in ewige Sicherheit zu bringen. Diese Schauspielerlegende war – als Künstler, Ehemann und Individuum – tatsächlich an dem Punkt angekommen, den er als Archie Rice in dem Satz zusammenfasst: „Ich bin tot hinter diesen Augen!“
„The Entertainer“ ist ein Abgesang wie aus dem Bilderbuch – die englische Music Hall ist im Niedergang, ebenso das britische Empire, das gerade die Suez-Krise durchmacht, und der Held ist es auch.
Archie Rice ist jedoch kein einstmals großer Mime, der hier im Endstadium seiner Karriere zu sehen ist. Dieser Archie war immer fünftklassig, ein (Selbst-)Betrüger, ein Schmierlappen. Nun kommt noch ein aggressives Selbstmitleid hinzu.
Laurence Olivier war von Arthur Miller, dem Gatten seiner Filmpartnerin, genötigt worden, sich ein Stück des jungen Wilden John Osborne nochmals anzusehen und seine Meinung zu überdenken. Olivier mochte das Stück danach immer noch nicht, war aber hellsichtig genug, den Autor zu bitten, auch eines für ihn zu schreiben. Das Ergebnis war „Der Entertainer“, der im folgenden Jahr 1957 herauskam und schon zwei Jahre später verfilmt wurde. Darin beleuchtet Osborne die Welt des Theaters, die bislang von Salonlöwen mit seidenem Morgenmantel, Zigarette mit Korkmundstück und Champagnerglas bestimmt worden war, von der anderen Seite der Klassengesellschaft. Die Rices sind eine Familie der Arbeiterklasse. Wir werden sie zerbrechen sehen.

Ganz gleich, ob man sich mehr für die Familientragödie interessiert oder ob man sich eher in die mitleidslose Darstellung der Unterhaltungsindustrie hineinfühlt – „The Entertainer“ ist ein Horrorfilm. Er ist frei von beschönigendem wie auch von gruseligem Kitsch. Obwohl die Schaustellerfamilie tatsächlich mitunter etwas überzogen gezeichnet ist, dürften uns ihre Konflikte letztlich bekannt vorkommen. Im Zentrum steht Laurence Olivier als Archie Rice (mit leicht vergrößerter Zahnlücke), der in seiner Alleinunterhalter-Aufmachung einen angemessen grotesken Anblick bietet. Es ist ein unvergesslicher Anblick.

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