„Avantgarde“ bedeutet „die Vorhut“ – ursprünglich im militärischen Sinne, seit der Jahrhundertwende auch und vor allem auf den Gebieten der Kunst und Gesellschaft, Wissenschaft und Politik. Es geht darum, was Leute machen, die ihren Zeitgenossen voraus sind. Das ist stets damit verbunden, dass alte Zöpfe abzuschneiden sind und sich des Widerstandes ihrer (vor)herrschenden Träger erwehrt werden muss. Dieses recht kühne, romantische Bild haben sich immer wieder einzelne Persönlichkeiten – besonders der Kunst und der Gesellschaft – selbst übergestülpt. Das ist tückisch und ein bisschen peinlich – so wie wenn sich selbst jemand als Lebenskünstler bezeichnet oder wenn ein erwachsener Mensch ein Rendez-Vous mit dem Hinweis eröffnet „Ich bin schüchtern“.
Wer wirklich Avantgarde ist, weiß die Nachwelt am besten zu beurteilen – wenn sie denn überhaupt eine Erinnerung an den Ketzer / Wirrkopf oder notorisch erfolglosen Schriftsteller bewahrt hat, auf den das zutraf.
Der Ausdruck hat aber noch einen anderen Nachteil. Genau wie die Begriffe „Postmoderne“ oder „Neuzeit“ neigt er dazu, als Einordnung rasch zu veralten. „Was soll das sein?“ fragte Marcel Reich-Ranicki immer, wenn ihm jemand mit der „Postmoderne“ kam. „Was soll denn danach kommen?“ pflegte Hanns Dieter Hüsch zu fragen, wenn die „Neuzeit“ bemüht wurde.
Nach gut 100 Jahren ist der Begriff „Avantgarde“ außerdem – wenn auch auf sympathische Weise – selbst veraltet und zur historischen Vokabel geschrumpft. Er basiert auf der idealistischen Vorstellung, dass in den Künsten ein universell menschheitlicher Fortschritt vorweggenommen werde. Das wäre inzwischen eine törichte Überhöhung.