Die schönsten Filme, die ich kenne (94): „Frankenstein – Das Experiment“

Bei den unzähligen Frankenstein-Verfilmungen der letzten mehr als 100 Jahre konnten wir stets sicher sein, dass uns eine wohlige Distanz aus dem Schlimmsten heraushielt. Diese Distanz wurde freiwillig geschaffen (durch Humor etwa, Camp, eine stimmungsvolle Ausstattung) oder auch unfreiwillig (durch allzugroße Ambition, durchschaubare Tricktechnik oder das Fehlen von Humor, Camp, einer stimmungsvollen Ausstattung …). Der Film von Bernard Rose ist eine Zumutung, denn er kündigt das uralte Genreversprechen des Horrors – größtmögliches Entsetzen in völliger Sicherheit – scheinbar auf. Was dem tragischen Helden angetan wird, rückt uns so nahe wie nie. Somit ist diese deutsch-amerikanische Koproduktion aus dem Jahre 2015 tatsächlich ein neuer und sehenswerter Beitrag.
Und das ist nicht das einzige Kunststück, das sie fertigbringt.

Dr. Frankenstein (gespielt von dem auf kaltherzige Widerlinge spezialisierten Danny Huston), seine schöne Frau (Carrie-Ann Moss) und ein Kollege haben einen synthetischen Menschen (großartig: Xavier Samuel) erschaffen: einen jungen Mann, dessen Verstand allerdings der eines Säuglings ist. Während der bildhübsche, völlig hilflose Kunstmensch bei Frau Doktor sogleich mütterliche Gefühle weckt, sieht ihr Mann in ihm vor allem ein Forschungsobjekt, an dem weiter gearbeitet werden muss. Gegen den Rat seines Mitarbeiters probiert er ein paar Präparate an ihm aus, die vermutlich für das Folgende verantwortlich sind: der Junge beginnt nach einiger Zeit zu verfaulen. Obwohl seine Gattin protestiert, verfügt Dr. Frankenstein, das „unbefriedigende Ergebnis“ einzuschläfern. Doch ihre überraschenden Körperkräfte lassen die Kreatur aus dem Labor entkommen – lallend (wenn auch dazulernend), ausgestoßen und dem weiteren Verfall anheimgegeben.
Ein obdachloser blinder Blues-Sänger nimmt sich ihrer an. Als dieser seinem seltsamen Gefährten eine erste sexuelle Erfahrung verschaffen will und ihn mit einer befreundeten Prostituierten zusammenbringt, nimmt das Schicksal endgültig seinen Lauf …

Der Film überspringt das bekannte Vorspiel (und die üblichen lästigen Erklärungen und Motivationsansätze) und beginnt mit der Fertigstellung des künstlichen Menschen. Auch so leuchtet uns der ehrgeizige Wissenschaftler (bzw. herzlose Vater) sofort ein. In winzigen, fast dokumentarischen Clips und ohne ein rechtes Zeitgefühl durcheilen wir die „Fortschritte“ in dessen offensichtlich privater Einrichtung.
Dass die Handlung in unseren Tagen spielt, erlaubt eine überaus spartanische Ausstattung der Laborszenen, und doch sieht der Film zu keiner Zeit unangemessen billig aus. Die Streifzüge der Kreatur durch die Vorstadt und den Bodensatz unserer Gesellschaft entstanden am Originalschauplatz. Die Gewaltdarstellungen – natürlich muss sich der arme Kerl bald gegen Punks, Polizisten und misstrauische Bürger zur Wehr setzen – sind explizit und grauenhaft, aber sie wirken nur folgerichtig und nie voyeuristisch.
Die schlimmsten Grausamkeiten verstecken sich ohnehin im Subtext. Erst als der Verstoßene seine Eltern aufspürt, erfährt er, welchen Namen sie ihm gegeben haben: Adam. Auf die Frage wie er heiße, hatte er immer nur „Monster“ geantwortet.
Dieser Filmemacher hat die Vorlage wirklich verstanden.

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