Der ungewollte Erfolg – Was ist KULT?

betr.: Fachbegriffe / Synergien in der Popkultur: Vier kleine Worte (1)

Dieser vierteilige Artikel beruht auf meinem Unterricht Musicalgeschichte bzw. Mediengeschichte. Die Kapitel: 1. Kult – 2. Trash – 3. Camp – 4. Pulp

Zum Geleit

In einem Artikel über den Regisseur Ernst Lubitsch las ich neulich zu meiner Überraschung, dass dieser Mitte der zwanziger Jahre – in rascher Folge und mit der linken Hand – fünf Meisterwerke zustande gebracht hat. Für mich war ein Meisterwerk immer die glanzvolle Krönung im Werk eines Künstlers, und nur wenn sich jemand ungewöhnlicherweise auf mehr als einem Gebiet betätigte – wie etwa Michelangelo – konnten ihm eventuell mehrere gelingen. Aber Meisterwerke wurden noch nie und in keiner Kunstform mit der linken Hand und en masse geschaffen, schon gar nicht beim Film, wo der Gesichtspunkt der kommerziellen Auswertbarkeit immerhin auch noch zu berücksichtigen ist. Mit dieser Vorbemerkung will ich nur (bedauernd) festhalten, dass heutzutage allzu leicht mit Superlativen umgegangen wird …“ – So beginnt das Buch „Klassiker des Horrorfilms“.

In den 40 Jahren, die vergangen sind, seit William K. Everson diese wahren Worte schrieb, ist es natürlich noch viel schlimmer gekommen. So ist das Wort „Meisterwerk“ inzwischen Teil eines Logos, das auf sämtlichen (!) DVDs mit älteren Filmen aus dem Hause Walt Disney prangt – diese Herrschaften können wohl gar nicht anders. War der Begriff „Blockbuster“ einst ein Adelstitel, der jenen Filmen verliehen wurde, die für Häuserblock-lange Schlangen vor amerikanischen Kinos gesorgt hatten, ist heute alles, was der Hollywood-Mainstream auch nur ankündigt, „der neue Blockbuster von den Machern von“. War vor 40 Jahren nur „Kult“, was sich gegen die Widrigkeiten schlechter Platzierung und fehlenden Werbebudgets beim Publikum durchgesetzt hatte, so ist heute z.B. alles, was „Bully“ demnächst machen wird, vorsichtshalber jetzt schon mal „Kult“ – er selbst ist es ja schließlich auch.

Von meinem studentischen Fachpublikum muß ich erwarten dürfen, dass es mit solchen Begriffen etwas behutsamer / bewußter umgeht – und nicht nur mit den Superlativen. So wollen wir uns heute die eigentliche Bedeutung der Begriffe „Camp“, „Kult“, „Pulp“ und „Trash“ etwas genauer ansehen, die sich inhaltlich mitunter berühren und die oft nachlässig, sogar völlig falsch verwendet werden, auch unter Kollegen.

KULT

Dieser Begriff bezeichnet – wie schon gesagt – ursprünglich den Aufstieg eines niedrig budgetierten bzw. unambitionierten Werkes zum Publikumserfolg und ist heute zur Reklamefloskel herabgesunken, vor allem im Privatfernsehen und auf dem Musikmarkt. Noch ursprünglicher wurde dieser Ausdruck auf Gesten mythischer Verehrung angewandt, ehe es den heutigen Religionsbegriff gab. In der Nachkriegszeit fand er sich im zeitgeschichtlichen / politischen Kontext wieder, beim Umgang des Volkes mit „großen Führern“ und ihren Lehren. Hier will er vor allem kritisch verstanden werden („Personenkult“). Aber genug davon und zurück zur Kultur. (Hups! Da isser ja schon wieder!)

Was also bedeutet das „Kult“-Wort bei korrekter Anwendung, z.B. im Feuilleton? Besonders oft bezieht es sich auf die Filmkunst. Manche Kultfilme verdanken diese Einordnung einem vorherigen Klassikerstatus, bei manchen ergibt sich das umgekehrt. Grundsätzlich aber sind die beiden Begriffe voneinander unabhängig. So ist „Panzerkreuzer Potemkin“ von 1925 gewiß ein Klassiker erster Güte, aber keiner, um den sich außerhalb einzelner Filmhochschulklassen freiwillige Fanclubs gebildet hätten. „Dirty Dancing“ mag ein Kultfilm sein, aber niemand wird ihm ernsthaft historische Bedeutung und einen Klassikerstatus im künstlerischen Sinne zumessen. Sein Kult war immerhin so deutlich wahrnehmbar, dass er nachträglich unter einem Bühnenmusical begraben wurde, das sich eng an die Vorlage hielt. (Wer den Unterschied Kultfilm / Klassiker vertiefen möchte, dem sei das Heyne-Taschenbuch „Kultfilme“ von Ronald M. Hahn und Volker Jansen von 1985 ans Herz gelegt!)

Der Film „Casablanca“ ist sowohl ein Klassiker als auch ein Kultfilm. Als hochglänzendes Hollywood-Produkt der Silver-Screen-Ära war er natürlich prächtig gefietschert, aber eine Kette glücklicher Umstände sicherte ihm einen besonderen Platz im Herzen des Publikums. Damals wichtig – heute vergessen – war z.B. der aktuelle Bezug, eine kriegswichtige Konferenz, die 1943 zufällig in Casablanca stattfand. Heute wichtig: Das Liebespaar dieses humorvollen Melodrams erwies sich DAS Hollywood-Traumpaar schlechthin, der Titelsong nahm eine ganze Tradition vorweg (siehe „James Bond“) – und dann diese vielen hübschen Zitate, die auch benutzt, wer den Film nie gesehen hat: „Uns bleibt immer Paris!“, „Ich seh‘ dir in die Augen, Kleines!“, „Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen!“, „Ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft!“, „Spiel’s noch einmal, Sam!“ (oder so ähnlich).

(Hier pflege ich das studentische Publikum um den Hineinruf von weiteren Beispielen für berühmte Filmzitate zu bitten. Am häufigsten werden genannt: „Ich habe eine Wassermelone getragen.“, „Mein Name ist Bond! James Bond!“ und „Hasta la vista, Baby!“ Zu meiner Verwunderung fehlt fast immer: „Ich bin der König der Welt!“)

Das griffigste und verdienteste Beispiel für einen Kult-Film ist zweifellos die „Rocky Horror Picture Show“. Wie man sich erinnert, handelte es sich hier zunächst um eine kleinere Bühnenmusicalproduktion, „The Rocky Horror Show“ (1973). Wir würden heute vermutlich nichts mehr davon wissen, hätte sich nicht ein Geldgeber gefunden, der eine Filmversion davon finanzierte. Diese lockte ein lokales Publikum an, dass immer wiederkam, irgendwann die Dialoge (komplett) auswendig konnte und schließlich selber mitspielte – bis sich der Film genau deswegen herumsprach, einen Verleih fand und bald landauf, landab auswendig gelernt und mitgespielt wurde. Sie alle kennen dieses Ritual mit den Verkleidungen, den ins Kino mitgebrachten Regenschirmen, dem geworfenen Reis und den reingebrüllten Regieanweisungen. (Wenn nicht, gibt Ihnen die entsprechende Szene aus dem Film „Fame“ von Alan Parker einen guten Eindruck.) So gelangte das Originalwerk schließlich an den Broadway – und das allein durch die Macht des Endverbrauchers.

Zum Erfolg der „Rocky Horror Picture Show“ mag beigetragen haben, dass sie mithalf, ein gesellschaftliches Tabu zum Alten Hut zu machen.* (Das bedeutet, das exotische Potenzial einer verfemten Lebensweise wird aufgerieben, ohne dass die Gesellschaft diese danach gleich vollumfänglich akzeptiert. Das betreffende Tun ist aber zumindest nicht mehr „abendfüllend“, kein Skandal mehr. Ein Umdenken hat die Möglichkeit, langsam einzusetzen.) In diesem Falle geht es um die Vorführung abweichender sexueller Spielarten: das Schwul- und Bi-Sein wird mit einer außerirdischen Herkunft verknüpft. Waren die Invasoren aus dem Weltraum im Kino des Kalten Krieges eine Chiffre für die drohende kommunistische Unterwanderung, so wird sich hier parodistisch auf jene Filmgenres bezogen, die damals die Paranoia einfingen: die (preiswerten) Horror- und Science-Fiction-Filme der 50er Jahre (zumeist von einem Routinier namens Jack Arnold inszeniert), die ihrerseits längst Kultstatus genießen. Passenderweise heißt der Planet, von dem der zentrale transsexuelle Eindringling gekommen ist, „Transsylvania“. Die Vorbilder aus der Kinogeschichte werden im Eröffnungssong namentlich aufgerufen.

Im deutschen Film gibt es immerhin eine kleinformatige Version dieser Erfolgsgeschichte, ebenfalls ein Science-Fiction-Musical voller homosexueller Anspielungen und ohrgängiger Schlager: „Im Himmel ist die Hölle los“ von Helmer von Lützelburg. Dieses ist der einzige Film aus heimatlicher Produktion, der die Bezeichnung „Kultfilm“ wirklich verdient hat, ein ewiger Geheimtipp, ein unprominentes B-Picture mit besonders beinharten Fans. Die Darsteller sind ein skurriles Ensemble aus dem Rest der Truppe des soeben verstorbenen Rainer Werner Fassbinder (Kurt Raab, Barbara Valentin, Harry Baer), Trash-Ikonen (die Softpornographin und Synchronstimme Beate Hasenau, Johanna König, die „Klementine“ aus der Waschmittelwerbung) und kommenden Größen (Marianne Sägebrecht, Billie Zöckler, Ralph Morgenstern, Dirk Bach) sowie der schönsten Damenimitation des deutschen Autorenkinos: Walter Bockmayer „in der Rolle der Frau Sommer“. Der Schauplatz ist eine futuristische Bundesrepublik nach der Einführung des Privatfernsehens (die zu Beginn der Dreharbeiten gerade angekündigt war). Diesen Film fanden ich und viele Menschen meiner Generation so komisch, dass wir zumindest längere Passagen daraus auswendig lernten. Ich konnte mich stets darauf verlassen, einzelne aber sehr laute Lacher zu ernten, wenn ich in meinem Soloprogramm unerwartet einige davon zitierte. Der Kult verrauchte jedoch etwas im Laufe der Zeit. Als Hauptdarsteller Dirk Bach 2012 tragisch früh und überraschend starb, fehlte „Im Himmel ist die Hölle los“ in den zahlreichen Zusammenschnitten und Programmänderungen im Fernsehen – obwohl das ZDF das Werk sogar koproduziert hatte.

Im Fernsehen schaffte es Anfang der 90er die Sitcom „Eine schrecklich nette Familie“ um den impotenten Damenschuhverkäufer Al Bundy, eine große Fangemeinde zu generieren – obwohl die Sendung tief im Nachtprogramm von RTL versteckt war. Das war und ist „Kult“. Spätestens seither gehört diese Vorsilbe zum Standardvokabular der Pressearbeit des Privatfernsehens.

Dass der Begriff „Kult“ heute so lax gebraucht wird, hängt sicher damit zusammen, dass er in seiner früheren Bedeutung so selten angebracht ist. Besonders schön wurde das in den 90er Jahren im Werbefernsehen deutlich, als der kleine Sohn der „Knorr-Familie“ eine Tütensuppe mehrfach als „kultig“ bezeichnete.

 

*Meine Studenten können heute nicht mehr nachvollziehen, was an diesem Werk jemals Anstoß erregt haben könnte, und das ist ein Zeichen dafür, dass die Macher mit ihrem Konzept letztlich Erfolg hatten.

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4 Antworten zu Der ungewollte Erfolg – Was ist KULT?

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