Kinderland revisited

betr.: „Fun Home“ – Literatur / Comic / „Graphic Novel“

Marcel Reich-Ranicki wurde in seiner Leserbrief-Kolumne in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ einmal gefragt: „Sind Comics Literatur, und lesen Sie selber Comics?“ Die Antwort fiel kurz und leidenschaftlich aus: „Nein, nein, nein.“
Dieser Bann traf naturgemäß auch ein Buch, von dem ich tollkühnerweise vermute, es müsste sogar Marcel Reich-Ranicki gefallen haben, wenn er es gelesen hätte. Ich selbst nehme es regelmäßig zur Hand, da ich es auch im Unterricht einsetze, und immer wieder bin ich davon überrascht. Dabei kann ich nicht sagen, ob das an seinen klugen Einsichten und Denkanstößen liegt oder an den Worten, in die sie gefasst werden, am schriftlichen oder am grafischen Teil. Natürlich ist es letztlich die Summe all dessen. Dieser „Tragicomic“ heißt „Fun Home“, stammt von Alison Bechdel, ist 2008 bei Kiepenheuer & Witsch auf Deutsch erschienen und in die Comic-Buchreihe der „Süddeutschen Zeitung“ aufgenommen worden. Der Titel ist ein Wortspiel, dessen weniger offensichtlicher Teil auf den Schauplatz der Handlung verweist, ein Bestattungsunternehmen, ein „Funeral Home“. Dieses ist ein in vielfacher Hinsicht archetypischer Beitrag zum Genre der „Graphic Novel“, wo zumeist entweder (Welt-)Literatur adaptiert oder Biographien nacherzählt werden – in diesem Falle die eigene.

Die Geschichte der Autorin / Zeichnerin schrammt an meiner eigenen jeweils knapp vorbei: auch in meinem Elternhaus spielten Beerdigungen eine gewisse Rolle, denn meine Mutter trat das Harmonium in unserer Dorfkirche und war auch sonst im Gemeindeleben sehr aktiv, auch sie hat ihre künstlerischen Ambitionen einem bürgerlichen Leben geopfert, sie aber nie ganz vergessen können. Auch mein Vater lebte im selbstgeschaffenen Zuhause wie in der Verbannung, er möbelte allerdings nicht unsere Stube auf wie Papa Bechdel, sondern seine selbstgebauten Geräteschuppen und Kaninchenställe hinterm Haus. Das Austeilen kultureller Anregungen widerum überließ er notgedrungen Mutti. Die meisten davon bekam ich aber durch Radio (Luxemburg), Fernsehen und Comics, Quellen also, denen allgemein der Ruf der Bildungsverhütung vorauseilte. Dann ist die Ich-Erzählerin zeitgeschichtlich etwas früher dran als ich, lebte in den ländlichen USA, und ihre Homosexualität ist die weibliche – wie gesagt, es ist kein wirkliches Abbild, das mir in „Fun Home“ begegnet, dennoch meint es mich mit jeder Seite.

Dieses Buch war mir aber auch das Vorspiel einer großen Enttäuschung. Ich war davon derart entzückt, dass ich glaubte, der gerade anrollende Trend der abendfüllenden Comic-Literatur würde mir nun regelmäßig eine solche Sternstunde bescheren. Ich las zwar noch im selben Jahr mit Begeisterung das frisch übersetzte „Black Hole“ von Charles Burns und die Reisereportagen von Guy Delisle, doch damit hatte ich den Rahm für’s Erste auch schon weitgehend abgeschöpft. Die zahllosen neuen Comics, die ich mir in den folgenden Monaten und Jahren kaufte und jeweils für den nächsten Lesesommer stapelte, enttäuschten mich fast alle. Schmerzlich vermisste ich die unprätentiöse Ökonomie der Bechdel’schen Zeichungen, die nie so aussehen, als wollten sie lieber im Museum hängen, und doch alles Nötige enthalten. Mir fehlte so oft der kluge Aufbau der Erzählung, der Verzicht auf dramatische Effekte und aalglatte Pointenversuche. Vielleicht gingen mir auch die hand-faksimilierten Briefe, Landkarten, Zeitungsartikel, Fahrkarten und Buchseiten ab, die Verweise zu Literatur, Musik und Zeitgeschichte – aber so etwas passt natürlich nicht in jeden Comic. Und in Bechdels neuem Werk „Wer ist hier die Mutter?“ gibt es all das auch – und es hat trotzdem nicht die gleiche Qualität. Es ist wohl alles nicht so einfach.

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