Going West! (4) – Des Wagenmeisters Hand

betr.: Ausstellung „Going West!“ im Wilhelm Busch Museum Hannover* / Fortsetzung vom 19.1.

In seinem Ausstellungskatalog „Going West!“ schildert Alexander Braun mit einer Fülle von Bildmaterial die Darstellung des amerikanischen Gründungsmythos im Comic. Dem vorangestellt ist ein Kapitel über die tatsächlichen Vorgänge im Wilden Westen und ihre meist geschönte Nacherzählung auf der Leinwand. Zuletzt wurden mit „Heaven’s Gate“ und „Dances With Wolves“ zwei Filme vorgestellt, die dem Mythos vom Wilden Westen widersprachen. Es gibt aber ein noch jüngeres Beispiel.
Der folgende Text und erscheint hier als Serie mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Das große Nichts (4)
von Alexander Braun

So mußten wir im Bereich des Films mehr als 100 Jahre warten, bis mit der Low-Budget-Inszenierung „Meek’s Cutoff“ (2010) der amerikanischen Independant-Regisseurin Kelly Reichardt (geb. 1964) eine Schicksalsreise gen Westen gelang, die in dieser Art zum ersten Mal die Option wahrhaftiger Empathie offerierte.

meeks cutoff
Reichardts minutiöser Realismus ist beeindruckend: Kleider wiegen kiloschwer am
Körper nach der Durchquerung eines Flusses und schon die kleinste Bodensenke hält den Treck für Stunden auf und gefährdet Räder und Achsen. Für die Schönheit der Natur hat´die kleine Reisegruppe kaum ein Auge, zu existienziell und bedrängend ist die Weite, die es zu überwinden gilt. In einer Schlüsselszene repariert Emily den Mokassin des gefangengenommenen Indianers. Diese Geste erfordert ein Maximum an sprachlicher Anstrengung und emotionaler Überwindung. Emilys Freundin ist entsetzt und angewidert, wie man dieses verschwitzte Stück Leder vom dreckigen Fuß des Wilden überhaupt in die Hand nehmen kann.

Hier lässt sich nachfühlen, wie es gewesen sein mag, sich den Strapazen eines Trecks gen Westen auszusetzen: drei Familien, drei Planwagen, ein paar Ochsen als Zugtiere, ein Führer zu Pferd (der den Weg verliert und sich in der Prärie verirrt, was die Reisegemeinschaft aus Wassermangel in Lebensgefahr bringt), ein einziger Schuss (= in die Luft abgegeben), und ein einsamer Indianer, dessen bloße Anwesenheit alle so erschreckt, dass sie ihn gefangennehmen. Böse Zungen würden den Film als langweilig bezeichnen, dabei verkennend, dass die vermeintliche Langeweile bzw. Langsamkeit das einzige probate Mittel darstellt, dem Treck eine adäquat dramaturgische, also authentische Qualität zu verleihen. Nicht das anekdotenhafte Abarbeiten von aktionsreichen Gefahren am Wege gefährdet das Leben der Gemeinschaft, sondern die schier unermessliche, unfassbare Weite und Leere der Prärie. Hier die Orientierung zu verlieren, sich in unbekanntem Terrain zu verirren, wo jede Senke in der Landschaft Unüberwindbarkeit für die Planwagen bedeutet, kann in kürzester Zeit den Tod für Männer, Frauen und Kinder bedeuten, weil Wasser und Nahrungsmittel fehlen.

Kelly Reichardts Film wird so zu einer Antithese von Raoul Walshs bis heute beeindruckenden Film „The Big Trail“ von 1930, einem der ersten Tonfilmwestern überhaupt.

Big Trail
„The Big Trail“ ist bis heute einer der aufwändigsten und spektakulärsten Western aller Zeiten geblieben: 185 Planwagen, 20.000 Statisten, 725 indianische Darsteller von fünf verschiedenen Stämmen, 3.700 Rinder, Büffel und Pferde, 22 Kameramänner und 4.300 für die Dreharbeiten tatsächlich zurückgelegte Meilen haben ihren Eindruck in der Kinogeschichte hinterlassen. Neben der regulären 35mm-Version wurde der Film zusätzlich auf 70mm-Material gedreht. Neben der englischen Fassung mit John Wayne in seiner ersten Hauptrolle wurden parallel gleich eine französische, deutsche, italienische und spanische Version mit jeweils unterschiedlichen fremdsprachigen Hauptdarstellern realisiert. Insbesondere die Szene, in der der Treck mitsamt
Menschen und Tieren einen steilen Abhang hinunter abgeseilt wird, ist an Schauwerten schwer zu übertreffen.***

Walsh punktet mit der schieren Fülle an Material und Protagonisten, die er auf den Oregon Trail schickte und damit eine eigene Form von historischer Authentizität inszenierte. Der Oregon Trail erwies sich als die leichteste Passage durch die Rocky Montains und wurde so zur meistbefahrenen Strecke gen Westen. In den Boom-Jahren 1850 und 1852 wurde der Trail von 52.500 bzw. 70.000 Wagen befahren. Im Schnitt also bis zu 200 Wagen pro Tag. Theatralische Indianerüberfälle und belagerte Wagenburgen waren dabei allerdings von extremer Seltenheit. Im Schnitt ließen 5% der Siedler ihr Leben auf dem Trail, 90% davon aufgrund von Unfällen und Krankheiten, darunter an erster Stelle Cholera und Skorbut. Für das Jahr 1850 wird die Zahl der von Indianern getöteten Siedler auf 48 geschätzt, die der von Siedlern getöteten Ureinwohner auf 76. Im noch reiseaktiverenen Jahr 1852 waren es sogar nur 45 und 70. Gehen wir davon aus, dass ein Wagen im Durchschnitt mit drei bis vier Personen besetzt war, dann entspräche das einer Mortalitätsrate unter den Siedlern durch Indianerüberfälle von unter 0,02%: nicht wirklich eine Quote, mit der sich in Sachen reißerischer Western-Action Staat machen lässt. Die kriminellen Aktivitäten der Ureinwohner beschränkten sich zumeist auf das Stehlen von Pferden, die sie dann späteren Trecks wieder zum Kauf anboten. Gewaltsame Auseinandersetzungen waren zudem häufig eine Folge von Wilderei oder z.B. Goldschürfaktivitäten im Umland des Trails, tief hinein ins Indianergebiet. Kelly Reichardt macht also alles richtig, wenn sie die Begegnung mit den »Wilden« auf ein Minimum reduziert. Die Schönheit der Landschaftsaufnahmen, die der Film nicht minder enthält, werden von den Protagonisten kaum wahrgenommen: zu drückend sind ihre Probleme. So wird die Landschaft nicht als heroische Verklärung von Pioniertaten missbraucht, sondern als das belassen, was sie ist: pure emotionslose Anwesenheit. Und der Mensch ist verloren klein in ihr, im Angesicht seiner eigenen Bedeutungslosigkeit.

Der zwingende Realismus bei Reichardt ist frappant. Während sich die spektakulären Bilder von Raoul Walshs „Big Trail“ tief ins Filmgedächnis eingeprägt haben – die scheinbar endlose Phalanx von Planwagen, das Abseilen von Gerät, Mensch und Vieh einen Abgrund hinab –, reicht in „Meek’s Cutoff“ eine leichte Senke, um den kleinen Treck aufzuhalten, der keinen Achsenbruch riskieren will, der dann aber trotz aller Vorsicht eintritt und die Gruppe zusätzlich schwächt. Während Walsh trotz aller Hindernisse und dramatischen Todesfälle die Tugenden der Gemeinschaft beschwört, die alle Widrigkeiten zu überwinden vermag, und die Charakterstärke des Anführers besingt (John Wayne in seiner ersten Hauptrolle), ist es bei Reichardt eine Frau, die schließlich aus dem Schatten tritt und die Führungsrolle übernimmt, nachdem alle anderen gescheitert sind. Nicht aus Ehrgeiz oder Heldenmut, sondern weil sich die Optionen erschöpft haben und der Tod die schlechtere Alternative ist.

FORTSETZUNG FOLGT

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* Die Ausstellung läuft noch bis zum 21. Februar und wandert dann weiter ins Saarländische Wagdassen
** Das Buch ist nicht regulär im Handel erhältlich. Man kann es am jeweiligen Ausstellungsort für den Preis von 49 Euro erwerben (432 Seiten mit Schutzumschlag) oder direkt bestellen bei: mail@german-academy-of-comic-art.org (zzgl. 5 Euro Versandkostenanteil / wird als Paket verschickt).
*** Abbildungen aus dem besprochenen Band: Szenenfotos aus „The Big Trail“ (20th Century Fox 1930, 125 Min.) von Raoul Walsh (1887–1980) und „Meek’s Cutoff“ (Evenstar Films 2010, 104 Min.) von Kelly Reichardt (geb. 1964).

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