Bekehrung geglückt

betr.: 107. Jahrestag der Eröffnung des „Cabaret Voltaire“, späterer Geburtsort des Dadaismus, durch Hugo Ball

Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs bejubelt zu haben, ist eine Torheit, die einige heute hochangesehene Intellektuelle begangen haben, die nachher zur Besinnung gekommen sind. Immer mal wieder wird ein solcher Fall neu bewertet. Das kann mehr als 100 Jahre später nur durch eine Nachwelt geschehen, die zumindest die Möglichkeit hat, es sich leicht zu machen.
Im Falle des Dadaismus-Miterfinders Hugo Ball geschah diese Nachbetrachtung mit viel Fingerspitzengefühl.

Hugo Ball wurde für 1914 frontuntauglich erklärt und empörte sich darüber im Schweizer Exil. Für die Berner „Freie Zeitung“ polemisierte er gegen seine deutsche Heimat. Noch bleibender war sein Buch „Zur Kritik der deutschen Intelligenz“. Der Katholik Ball postulierte darin die „Konspiration der protestantischen mit der jüdischen Theologie (seit Luther) und eine Konspiration beider mit dem preußischen Obrigkeitsstaat (seit Hegel)“.
Die diesjährige Verleihung des Hugo-Ball-Preises, der für „herausragende Werke lebender Persönlichkeiten“ vergeben wird, „die im Sinne Hugo Balls geisteswissenschaftlich und/oder künstlerisch arbeiten“, wurde abgesagt. Sie sollte  am 5. März in Balls pfälzischer Geburtsstadt Pirmasens stattfinden. Stattdessen ging man Ende Januar in einer Podiumsdiskussion der Frage nach, ob es sich bei den o.g. schriftlichen Zeugnissen des namensgebenden Künstlers um die verzeihliche Sünde eines Kindes seiner Zeit gehandelt habe oder um einen Augenblick der Wahrheit, der später nur kaschiert bzw. vergessen wurde. Man kam zu dem Ergebnis, solche Äußerungen machten nur einen verschwindend kleinen Teil in Balls Gesamtwerk aus, zumal sich vergleichbar antisemitische Tendenzen auch bei Schiller, Goethe, und Fontane fänden, sogar bei Thomas Mann, zuletzt ein leidenschaftlicher Kritiker des Nationalsozialismus im amerikanischen Exil, der weltweite Aufmerksamkeit genoss.
Ball habe sich später vom Antisemitismus gelöst und sich im Zuge seiner Reversion zum Katholizismus näher mit dem Alten Testament beschäftigt. Er bedauerte öffentlich seine Äußerungen über das Judentum und gab zu, er habe persönlich „viel gutzumachen“.
Das ist für einen 1927 Verstorbenen, der also Auschwitz gar nicht mehr erlebt hat, eine umso erhellendere Aussage, wie ich finde.
Die Stadt Pirmasens wird den Preis nicht abschaffen oder umbenennen – ein kühler Hauch zivilisierter Streitkultur in einem stickig-aufgeheizten Debattenklima.

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