Der Sprachbeschützer

betr.: 150. Geburtstag von Karl Kraus

Der Wiener Schriftsteller und Essayist Richard Schuberth hat 2016 anlässlich des 80. Todestages von Karl Kraus in einem Essay darüber nachgedacht, wie der heute agieren und wie er heute aufgenommen würde. Wäre Kraus heute gar Blogger oder Influencer?
Aus diesem unvermindert erhellenden Buch mit den Titel „Karl Kraus: 30 und drei Anstiftungen“ sowie aus einigen Kraus-Zitaten, die kursiv gesetzt sind, hat der ORF folgende Collage destilliert.

Worin, fragt sich die gebildete Öffentlichkeit bei jedem Karl-Kraus-Jubiläum, bestünde heute die Aktualität des Herausgebers der „Fackel“?
Dort wo sie es am wenigsten vermuten würde: in der Sprachkritik.
Nicht in der Kritik von Grammatikfehlern. Nicht mal in der doofen Masseneindeutschung englischer Wörter, denn siehe da: 1923 schreibt Kraus selber von der „ausgepowerten“ Sprache. Nein, dort wo, wie Walter Benjamin schrieb, der Sprache das Warenzeichen aufgeprägt wird, in der Phrase. Dort wo sich Gedankenlosigkeit und Konformismus „hip“ vorkommen können, dort wo Germanisten schreiben, es gäbe „noch Luft nach oben“, wo Politiker „Am Ende des Tages“ sagen und wo Sensitivity Readers es nicht schicklich finden, wenn Plantagenaufseher in Romanen des 19. Jahrhunderts schwarze Sklaven, die sie zu Tode prügeln, mit dem „N-Wort“ ansprechen und nicht mit Begriffen, die ihrer Menschenwürde entsprechen.
Man weiß es nicht, denn Karl Kraus lebt nicht mehr.
Eines ist jedoch so sicher wie die Schwerkraft und unser aller Tod: dass die, die mit dem toten Kraus ihr publizistisches Selfie machen, den lebenden Kraus am heftigsten hassten. Und er sie dermaßen beleidigen würde, dass die Nachricht seines Unfalltodes oder dass er von Neonazis zerrissen wurde, ein kollektives Seufzen der Erleichterung durch die Redaktionen und Homeoffices dröhnen ließe.

Die Schwäche sieht sich im Spiegel und wirft ihn wütend nach mir und hofft, nun werde es mein Bild sein weil mich der Spiegel getroffen hat.
Die von mir gekränkte Zeit nimmt das nächste Wort, das ihr zur Hand, als Wurfgeschoss. Mir hat noch nie ein anderes Echo geantwortet als der unartikulierte Aufschrei.

Aber vermutlich wäre Karl Kraus eine zweiundzwanzigjährige, verdammt gutaussehende aber dennoch unangepasste TikTok-Influencerin, die ihre verdiente Kolumne in der Hochkultur verziehen bekommt und der man als „Europe‘s Next Top Nonkonformist“ die Spiegel-Bestseller-Schleife bereits umhängt bevor sie ihr irrsinnig wichtiges und kompromissloses erstes Buch veröffentlicht hat.

Ich habe mich im Laufe der Jahre zum Streber nach gesellschaftlichen Nachteilen entwickelt. Ich lauere, spüre, jage, wo ich eine Bekanntschaft abstoßen, eine einflussreiche Verbindung verlieren könnte. Vielleicht bring ich’s doch noch zu einer Position.

Angesagt bleibt, was eingängig ist und den jeweils eigenen Verblendungsgrad spiegelt. Öd ist, was einem zu viel abverlangt.
Was früher Medien- und Kulturbetrieb erledigen mussten, mit mühseligen Verleumdungs- und Totschweigekampagnen, erledigt die kritische Verschubmasse nun selbst in Form eines elektronischen Ostrazismus*.
Ist ein Text zu sperrig, zwingt er zum Mitdenken, jenem kurzen Aufblitzen der Freiheit, wird weiter gescrollt und weggewischt. Wie in einem Computerspiel können die Gefangenen selber ihre potentiellen Befreier abknallen und die Gefängniswärter früher nach Hause gehen. Nichts drückt dies erschütternder aus als die Phrase von den Texten, die einen „abholen“.
Nicht wir sollen uns um Wahrheiten bemühen, sondern diese mit dem jeweils günstigsten Schnäppchenpreis um uns. Denn der Kunde ist König und die Wahrheit ein Taxiunternehmen. Das hier Billigste wirft die anderen aus der Bahn. Aber wehe jemand schreibt Texte, die einen gar nicht abholen wollen.

Ungewöhnliche Worte zu gebrauchen, ist eine literarische Unart. Man darf dem Publikum bloß gedankliche Schwierigkeiten in den Weg legen. Sprache lebt in unmittelbarer Verständigung mit dem durch die Zeit empörten Geist. Hier kann jene Verschwörung zustandekommen, die Kunst ist.

Sofort aus der Gemeinschaft der guten Menschen ausgeschlossen würde Kraus 2.0, wenn er von seiner Unart nicht ablassen könnte, Kollegen und Menschen des öffentlichen Lebens schlecht zu machen. Nicht nur das. Seine Polemiken provozierten ein permanentes psychiatrisches Gutachten. Dass jemand auf andere schimpft, kann man gut nachvollziehen. Dass er es mit Geist und Witz tut, also eine kunstvolle Form dafür findet, ist unverzeihlich.
Denn ist Ersteres als impulsives Dampfablassen jedermanns und -fraus Sache, so zeugt die Berechnung des besten sprachlichen Effekts doch von Berechnung und folglich von einem besonders miesen Charakter. Nichts wirkt heute befremdlicher als die einstmalige Kunst der Polemik und der Invektive: der kunstvollen Beleidigung.
Eine Kraus–Lesung gegen den Ungeist der Zeit würde unter den politisch Korrekten ähnliche Empörung auslösen wie ein Sprengstoffanschlag auf einen Kindergarten. Und selbst wenn Kraus bloß gegen die Lieferanten des Zündmechanismus wetterte. – Wie kann man bloß so intolerant sein? Der arrogante Sadist hat soeben den armen Waffenproduzenten zum Weinen gebracht.
„Polemisch“ gilt unter den publizistischen Langweilern als pejorativ**, als Synonym für unsachlich und subjektiv verbohrt. Während ihre Einerseits/Andererseits-Waage nach dem seriösen Abwägen der Argumente doch erstaunlicherweise immer das konforme Einerseits mehr wiegen lässt. So als würde unsichtbare Zauberhand ein gewichtiges Devidendchen aufs Schälchen legen.

Hass muss produktiv machen. Sonst ist es gleich gescheiter, zu lieben.

So heißt das Programm von Karl Kraus. Jede Beleidigung, jeder An- und Untergriff, der nicht Kunststück, von Reflexion, Witz, Humanität gedeckt ist, wird zu recht geahndet. Das unterscheidet gute Polemik von Wutbürgertum, vom unartikulierten Aufschrei, von derbem Pöbeln.
Der gute Polemiker simplifiziert nicht, er differenziert durch seine Übertreibungen. Er greift aus Überzeugungen, nicht aus Häme an. Was der Zweckgemeinschaft der Hämischen so ungeheuerlich ist, dass ihr nur der Vorwurf der Selbstgerechtigkeit bleibt. Denn nicht die Aggressivität der Polemik stört sie wirklich, sondern die Weigerung des Polemikers niedrige Beweggründe zuzugeben, die ihn wenigstens zu einem Menschen wie dich und mich machten. Gute Polemiker sind Gentlemen oder Gentlewomen, schlechte Polemiker Lumpen. Nur noch geschultes Bewusstsein kann das unterscheiden.

Doch wo sind die Schulen die es lehren?
Karl Kraus wäre die beste. Und für alle, die auf die gentechnologischen Versprechungen der Altersforschung nicht warten können: er ist der beste bislang verfügbare Jungbrunnen.
Denn:

Jung sein heißt, mit unverminderter Frische und Ablehnungsfähigkeit dem Maß hoher Erlebnisse treu, Unwesen und Unzulänglichkeit an sich nicht herankommen lassen. Alt sein heißt mithatschen.

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* das Ignorieren oder Ausschließen einzelner Personen oder Gruppen durch andere
** implizit abwertend

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