Endlich wiedergesehen: „Der Schlachter“ von Claude Chabrol

Eine kleine Ortschaft im französischen Périgord. Die junge Lehrerin und Schulleiterin Hélène freundet sich mit dem Schlachter Popaul an, der auf charmante Art um eine Vertiefung ihrer Beziehung wirbt. Die dörfliche Idylle wird erschüttert, als eine Frauenleiche im Wald gefunden wird, und die Leute müssen sich an eine gewisse Polizeipräsenz gewöhnen. Als Hélène auf einem Schulausflug wenig später eine weitere Tote findet, entdeckt sie  bei der Leiche das Feuerzeug, das sie Popaul geschenkt hat. Reflexartig lässt sie das Beweisstück verschwinden. Bald darauf zerstreut sich ihr Verdacht, Popaul könnte der Mörder sein. Doch dabei soll es nicht bleiben …
„Die vollkommene Balance von Form und Inhalt macht den Film zu einem Höhepunkt des französischen Nachkriegskinos.“ (filmdienst)

Rainer Werner Fassbinder hielt nichts von Claude Chabrol. Er räumte aber ein, „Der Schlachter“ sei „ein großer Film, immerhin, da entwickelt Chabrol das einzige Mal aus echten Menschen heraus eine Geschichte. Ach, er entwickelt überhaupt das einzige Mal. Der einzige Film, der dem Zuschauer nicht alles als ohnehin sinnlos und endgültig auf den Kopf haut. Und das tut er sonst in allen Filmen.“
Ich denke nicht, dass ausgerechnet Fassbinder der Richtige ist, Chabrol irgendwelche handwerklichen Vorwürfe zu machen, aber auch mir geht vieles von dem auf die Nerven, was er seinem französischen Kollegen vorwirft. Sein Urteil vom „einzigen Film“ kann ich sehr gut nachvollziehen.
„Der Schlachter“ ist ein Einzelstück im Werk von Claude Chabrol. Seine Figuren sind anmutige soziale Wesen, während dort sonst ein lichtloser Weltekel vorherrscht (der mich zuweilen durchaus an Fassbinder erinnert). Diesmal sehen wir eine bis in das Pianissimo ihrer Hack-Ordnungen, Eitel- und Unzulänglichkeiten ausgeleuchtete funktionierende Dorfgemeinschaft.
Auch das zentrale (unerfüllte) Liebespaar ist bemerkenswert. Der Schlachter Popaul (= Paulchen) wirbt mit redlichem, aber forschem Charme um die elegante, aber zurückhaltende junge Schulleiterin, die auf so selbstbestimmte Art „ihr Ding macht“ (ich hasse diese Formulierung, aber sie trifft es). Als die erhoffte Reaktion ausbleibt, kommt es nicht etwa zu Zickigkeiten oder einer Belästigung, sondern zu einer tiefen platonischen Freundschaft, wie man sie zwischen Mann und Frau selten (und im französischen Kino niemals) zu sehen bekommt. Die Lammkeule, die der Schlachter der Lehrerin in den Unterricht mitbringt, ist wie ein Blumenstrauß eingewickelt. Er scherzt mit den Kindern in dem Klassenzimmer, in dem er früher selbst unterrichtet wurde, und kann auch sonst mit jungen Leuten gut umgehen. Überhaupt kommen die verschiedenen Generationen im Dorf prächtig miteinander aus, was schon bei der Hochzeitsfeier zu Beginn – einem zünftigen Dorffest – deutlich wird.
Eine so intelligent erzählte Idylle ist dem Publikum überhaupt nur zuzumuten, weil im Hintergrund der Thriller durch gelegentliche Gerüchte von grausigen Funden und das Auftauchen eines Ermittlerteams aus der Stadt systematisch vorbereitet wird. Als das Grauen auf einem Wandertag schließlich vollends ausbricht, ist es umso wirkungsvoller.

Manchem Kritiker genügte das nicht. Wilfried Wiegand (im Band 5 der „Reihe Film“ des Hanser Verlags) sieht im Ausbleiben der sexuellen Erfüllung bei den Hauptfiguren einen Makel, der früher oder später zwangsläufig übel mutieren muss. Die unerwiderte Liebe Popauls beschreibt er als „sozialen Krankheitsfall“, Helènes Zurückhaltung als Symptom einer „der eigenen Persönlichkeit entfremdete Charitas“, die eine „arbeitsteilig parzellierte Menschlichkeit“ enthält. Popauls kriegs- und berufsbedingte Veranlagung, Fleisch zu zerschneiden, wird als Gegenmodell zu Helènes Humanitat in Stellung gebracht, doch diese sei auf ihre Weise „ebenso inhuman wie sein Verbrechertum“. Die „kindliche Stufe“, auf der die ganze Dorfgemeinschaft stehengeblieben sei, habe anscheinend auch Helène und Popaul erfasst und in ihre orale Phase zurückgestoßen. Wiegand betont die sozialen Unterschiede der beiden Protagonisten (die für ihn eine unüberwindbare Barriere darstellen), während ich mich über die Echtheit der Zuneigung freue, die ihnen dennoch möglich ist. Die Wärme des Spiels von Stéphane Audran, die ich in ihren üblichen Rollen als verderbte Drachenlady fürchte und meide, ist beeindruckend.

Wie auch immer man dazu stehen mag – Chabrol ist diese Besonderheit seines Films selbst aufgefallen, und er erklärte sie in einem Interview damit, dass das Drehbuch ausnahmsweise nicht von Paul Gégauff stammt. „Er kann innerhalb von zwei Sekunden eine Person völlig lächerlich und hassenswert machen“, klagte der Regisseur. „Er sagt immer, ich sei es gewesen, aber in Wirklichkeit kommt es von ihm“ – „es“ ist der eingangs beschriebene Nihilismus.
Natürlich weiß ich, was ich von einem typischen Chabrol-Film zu erwarten habe, und ich sehe ihn mir sogar deswegen an. Doch der Regisseur ist nicht so versiert, dass es ihm immer gelänge, ein gesundes Gegengewicht zu dieser Groteske aus Tristesse, Morast und Perspektivlosigkeit anzubieten. Was er als Gesellschaftssatire anlegt, läuft zumeist auf einen wüsten Gruselkitsch hinaus, der überdies schlecht altert.
Insofern ist „Der Schlachter“, der letztlich die gleichen Abgründe verhandelt, die Chabrol auch sonst am Herzen liegen, ein Juwel. Er ist „Ein bisschen Sonne im kalten Wasser“ im Kino des Meisters.

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