betr.: 119. Jahrestag der „Ankunft eines Zuges“
Am 28. Dezember 1895 fand im Pariser Grand Café die erste öffentliche Filmvorführung Frankreichs vor zahlendem Publikum statt. Angestellte der Brüder Louis und Auguste Lumière zeigten mit deren Konstruktion, dem Kinematographen, zehn selbstgedrehte Kurzfilme, von denen die knapp einminütige „Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat“ der heute bekannteste sein dürfte. Die (in behäbiger Fahrt) auf die staunenden Betrachter zurollende Lokomotive hat wohl für erschrecktes Gekreisch im Saal und Hinausläufe gesorgt, was allerdings durch keine namentliche Zeitzeugenaussage belegt ist.
40 Jahre später soll es Alfred Hitchcock – damals einer der aufregendsten jungen Filmregisseure Englands – geschafft haben, diesen Effekt herzustellen. Und das, obwohl sich das Publikum inzwischen an bewegte Bilder gewöhnt hatte, das Kino kein Jahrmarktbetrieb mehr, sondern in Film-Theatern zu Hause, und auch der Tonfilm längst eingeführt war. Dennoch gelang dem „Meister der Spannung“ ein Schock-Effekt, der weniger in der Thriller-Handlung als an der technischen Unschuld seines Auditoriums lag.
Hitchcocks Film „Secret Agent“ basiert auf den Ashenden-Erzählungen von W. Somerset Maugham und ist – wie 1936 üblich – in Schwarzweiß gehalten. Gegen Ende gibt es ein Zugunglück, das der technisch wie stets hochinteressierte Hitchcock mit einem besonderen Effekt aufmotzen wollte. Er ließ eine kurze Farbfilmpassage einbauen, die den Eindruck erweckte, durch die Karambolage würde der Film im Projektor Feuer fangen und schmorend zerbröseln. Die Anwesenden der ersten Vorführung im Studio nahmen diese kurze Sequenz für bare Münze und verfielen in eine Unruhe, die auch dann nicht aufhörte, als der Film danach ganz ordentlich weiterlief. Um keine Panik in den Kinos zu riskieren, forderten die Verantwortlichen Hitchcock dazu auf, die Szene wieder herauszunehmen – was der widerspruchslos tat.
Wieder zehn Jahre später – inzwischen in Hollywood – muß sich der Meister aber dieses Experiments erinnert haben.
Im Finale von „Spellbound“ wird ein Selbstmord gezeigt – aus der Perspektive eines Mannes, der eine Waffe zunächst auf Ingrid Bergman richtet, dann aber die Pistole umdreht, selbst in den Lauf der Waffe blickt und abdrückt. Im Augenblick des Schusses sieht das Publikum einige Einzelbilder in Technicolorrot. Nach mehr als anderthalb Stunden Schwarzweiß ist die Wirkung dieses roten Blitzes verheerend.