Marvels Mandarin Mix Up (1)

betr.: 75. Geburtstag von Bruce Lee

Heute ist es unvorstellbar, dass es eine Zeit gegeben hat, in der Marvel Comics nicht etwa die Quelle eines Großteils unseres Mainstream-Kinoangebotes war, sondern es sich genau umgekehrt verhielt. Der bereits hochproduktive Comic-Konzern strebte immer nach weiteren Konzepten, Protagonisten und Themen, um die Chance zu vergrößern, es könnte sich einer davon als Klassiker erweisen.
Heute wissen wir, diese Rechnung ist aufgegangen. Nicht ohne Opfer, denn viele Heftreihen sind auch zeitig wieder eingestellt worden.
Anfang der 70er Jahre griff Marvel intensiv nach der großen Leinwand. Eine Vielzahl von europäisch inspirierten Horror-Serien kam heraus, darunter auch „Dracula“ und „Frankenstein“.° Außerdem wagte man einen Trip in den fernen Osten mit „Master Of Kung Fu“. Das war pfiffig, denn einerseits hängte man sich damit an den Erfolg einer angesagten TV-Serie beinahe gleichen Namens an, musste aber andererseits keine Tantiemen berappen.
Das allgemeine Interesse an Martial Arts war von einem Namensvetter des Marvel-Chefs erregt worden, einem jungen Chinesen namens Bruce Lee. Er war der Grund dafür, dass Halbstarke überall auf der Welt versuchten, sich gegenseitig in die Eier zu treten. (Jeder wollte wie Bruce Lee sein, aber keiner hatte Lust, die dazu nötigen karatestunden zu nehmen …)
Die große Lücke, die Lees früher Tod hinterließ wurde von einem Medienphänomen gefüllt, das von Carl Douglas’ Popsong „Kung Fu Fighting“ gekrönt wurde, bei uns der Titelsong der erwähnten TV-Serie.

Kung FuAuch in Deutschland bedienten Marvels Kung Fu-Abenteuer das Interesse, dass die beinahe gleichnamige Fernsehserie erregt hatte. (Copyright by MARVEL COMICS GROUP)

Natürlich bekannten sich Stan Lee und seine Comic-Künstler weder zu Bruce Lee noch zu der Fernsehserie. Mit der üblichen pseudo-intellektuellen Chuzpe gab man den neuen Comic als eine Literatur-Adaption aus, als eine Hommage an den Groschenromanschurken Dr. Fu Manchu.
Diese 1911 von dem Briten Sax Rohmer (Arthur Henry Sarsfield Ward) geschaffene Romanfigur ist ein Superverbrecher, der damals viele Leser an Conan Doyles Moriarty denken ließ. Rohmer schrieb bis zu seinem Tod 1959 neben seinem Weltbestseller „The Mystery Of Dr. Fu Manchu“* noch zwölf weitere Romane, in denen sein finsterer Orientale von der Weltherrschaft träumte.°°
In der 30er Jahren hatte es bereits den gescheiterten Versuch einer Comic-Adaption gegeben, und die Universal, das Horror-Filmstudio Nr. 1, hatte Boris Karloff den Charakter verkörpern lassen.**
1951 machte Wally Wood einen neuen Versuch und legte „The Mask Of Dr. Fu Manchu“ als Graphic Novel vor (wie wir heute sagen würden) – wiederum ohne Erfolg.
Dann kamen die späten 60er.
Im Kielwasser der Asia-Welle und weiterhin beflügelt durch eine allgemeine Renaissance der Romanhelden der 30er (hier ist zum Beispiel „Doc Savage“°°° zu nennen, der als Nachdruck neu auflebte, außerdem in einem köstlich verunglückten Kinofilm), wurde der alte Bösewicht erneut aus der Versenkung geholt.

Kung Fu erobert die Comics

Diesmal stellte man es aber etwas schlauer an. Marvel hatte sich zwar die Rechte an der Figur gesichert, ließ diese aber nicht als Protagonisten auftreten. Der Protagonist war sinnigerweise ein drahtiger Sympathieträger, der Bruce Lee wie aus dem Gesicht geschnitten war. Er hieß Shang-Chi und war der Sohn des bösen Dr. Fu Manchu. Sein Name bedeutet „Aufsteigen und Fortschreiten des Geistes“ und verweist auf die Evokation von Fernöstlicher Philosophie als Bestandteil der Serie.

Selbstverständlich ist Shang-Chi kein Schurke mehr.
Er wurde zwar in einem klosterähnlichen Versteck seines Vaters in der chinesischen Provinz Honan zu dessen Nachfolger erzogen, fernab von äußeren und vor allem westlichen Einflüssen, aber das barg bereits eine hochwillkommene Tücke. Trainiert in allen Bereichen der Wissenschaft, Philosophie und Kampfkunst, war er im Grunde ein angehender Superheld. Als ihn sein Vater am Ende der Ausbildung zu sich rief, um ihm zu erklären, wie er die “Probleme der Welt“ zu „lösen“ beabsichtigte, kamen dem Jungen schon gehörige Zweifel. Nun wurde er noch London geschickt, an den alten Schauplatz der Rohmer-Abenteuer, um eine Reihe von Feinden seines Vaters zu beseitigen. Auf dieser Mission lernte er den „Klassenfeind“ achten und schätzen und war für die Pläne seines Erzeugers bald verloren.

Marvels „Kung Fu“-Serie hielt immerhin zehn Jahre (bis 1983) und verschaffte vielen jungen Comic-Künstlern frühe Aufträge, die später zu Stützen der Marvel-Gesellschaft aufsteigen sollten. Und sie ließen Bruce Lee – wenn auch in bescheidenem Umfang – in der amerikanischen Popkultur weiterleben.
Als Marvel 1988 versuchte, die Figur des Shang-Chi neu zu beleben, war der Duft von Opium und Menthol allerdings vollständig verraucht. Es blieb bei einer achtteiligen Geschichte in der Anthologiereihe „Marvel Comics Presents“.

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° Mit „Das Monster von Frankenstein“ wird sich im nächsten Jahr an dieser Stelle ausführlich auseinandergesetzt – https://blog.montyarnold.com/2016/01/01/der-imperator-aller-aussenseiter/
°° siehe dazu auch den Blog vom 29. September 2015
°°° siehe dazu auch den Blog vom 1. Oktober 2014
* dt. „Das Geheimnis des Dr. Fu Manchu“, Zug 1975, Ingse Verlag („Edition Sven Erik Bergh“), in der alten Übersetzung von Gustav Adolf Modersohn 1980 als Bastei Lübbe Taschenbuch neu aufgelegt.
** dt. unveröffentlicht, aber 1932 unter gleichem Titel verfilmt und 1987 für die ARD synchronisiert als „Die Maske des Dr. Fu Manchu“.

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