Im Kokon von Mr. Orwell

betr.: 65. Todestag von George Orwell

Buchstäblich auf den letzten Metern seines recht kurzen Lebens bescherte George Orwell der Welt zwei Erzählungen, die sich neben ihrer eigentlichen Popularität auch im Clipformat bis in unsere bücherfeindliche Gegenwart erhalten haben. In „Farm der Tiere“ macht der Autor – früher selbst Kommunist, später Sozialist – Stalin zum Vorbild für ein buchstäbliches Tyrannenschwein und lanciert das geflügelte Wort „Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher!“ Drei Jahre danach schreibt er „1984“, die populärste aller Anti-Utopien, und erfindet den „Big Brother“, der uns alle im Auge hat. Dass dieser Begriff ein geflügeltes Wort ist, verdankt er vor allem einer Containershow im Privatfernsehen – und das ist gar nicht mal so unpassend. Im Jahr nach diesem Bucherfolg starb George Orwell, noch keine 47 Jahre alt.
Mit diesen beiden Spätwerken hat er die Rezeption von Science-Fiction beeinflusst wie niemand seit Jules Verne und die Medienphilosophie wie nach ihm nur Marshall McLuhan.
Dennoch hat sich für sein vorangegangenes literarisches Schaffen kaum jemand interessiert.

Nach dem Abschluß des Eaton College ging Eric Arthur Blair, wie er zunächst hieß, als Offizier der Indian Imperial Police nach Burma. Der zunehmend skeptische Offizier schrieb später: „Der Dienst entsprach mir nicht und ließ mich den Imperialismus verabscheuen, obwohl nationalistische Gefühle zu dieser Zeit in Burma nicht sehr ausgeprägt und die Beziehungen zwischen den Engländern und den Burmesen gar nicht mal so schlecht waren. Als ich 1927 in England auf Urlaub war, quittierte ich den Dienst und beschloß, Schriftsteller zu werden.“
Zu dieser beruflichen Entwicklung haben seine ehemaligen Dienstherren beigetragen, die ihm für eine weitere Laufbahn im Öffentlichen Dienst begreiflicherweise keine gute Empfehlung ausstellen mochten.
Er erfindet zunächst George Orwell und schreibt als solcher die Sozialreportage „Erledigt in Paris und London“*. In der ersteren Stadt hat er als Tellerwäscher in einem Nobelhotel gearbeitet, in der zweiten unter Obdachlosen gelebt.
Seine Zeit als kaiserlicher Offizier schildert er bald darauf in „Tage in Burma“*, seinen ersten, bereits sehr engagierten Roman. Die Situation hierin ist bedrückend für die meisten – die sich in ihre Rolle fügen – aber verhängnisvoll für einen, der sich schüchtern dagegen sträubt.

In „Die Wonnen der Aspidistra“* versucht Gordon Comstock, Werbetexter und Autor eines erfolglosen Buches, seine Ideale durch einen freiwilligen Weg in die Armut zu retten. Das geht schief – Comstock wird bald wieder von seinen Aufstiegsreflexen eingeholt. Unterdessen schildert Orwell nicht ohne Humor, was es bedeutet, in einer modernen Großstadt arm zu sein, Die Aspidistra ist eine bei Kleinbürgern wohl sehr beliebte Zimmerpflanze …

1937 kämpft der junge Schriftsteller auf republikanischer Seite im Spanischen Bürgerkrieg, einer jener Auseinandersetzungen, in denen sich Linke und Linke gegenseitig zerfleischten und damit der Rechten – in diesem Falle dem Nachwuchsdiktator Franco – zum Sieg verhalfen. Orwell wirkt in diesem Konflikt auch als Korrespondent. “Mein Katalonien“* wird diese Zeit aufarbeiten.

In „Auftauchen, um Luft zu holen“* löst sich Orwell aus der historischen Kulisse. Es ist die Geschichte eines Vertreters, der aus seinem Trott ausbricht und an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt. Jeffrey Meyers verglich diesen Roman in „A Reader’s Guide to George Orwell“ mit Monumenten wie „Der Zauberberg“, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und „Liebende Frauen“. Orwell selbst sagte dazu: „Was immer man heutzutage schreibt, ist überschattet von dem Grausen, dass wir alle auf einen Abgrund zujagen und, auch wenn wir weder uns noch sonst jemand am Absturz hindern, uns doch dagegen wehren müssen.“

“Im Inneren des Wals“* ist eine Sammlung von Erzählungen und Essays von 1920 bis 1950, darunter viel Selbstreflektives und Autobiographisches, Überlegungen zum Weltgeschehen, Antworten auf die Arbeiten seiner Kollegen. Orwells Kritik am „amtlichen Hofnarren“ Mark Twain zum Beispiel ist immer wieder gern zitiert worden. In den Kapiteln über Terrorismus und unpolitische Gemüter werden gewissermaßen die Zutaten für „Animal Farm“ und „Nineteen Eighty-Four“ bereitgelegt.

Was taugen die frühen Arbeiten? Entweder wir vertrauen dem Literaturkenner Tilman Spengler, der urteilte: „So recht lässt sich auch für die Nachgeborenen aus“ der „dürren Prosa“ von „Orwells Frühwerken nicht erkennen, dass hier eine Jahrhundertbegabung frühzeitig verkannt worden wäre.“
Oder wir lesen selbst.

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* deutsch bei Diogenes

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