Auf den Wassern des Wahnsinns

betr.: 180. Jahrestag der Erstveröffentlichung der „Abenteuer des Arthur Gordon Pym aus Nantucket“ von Edgar Allan Poe

Im 19. Jahrhundert waren die jungen USA noch auf der Suche nach einer literarischen Identität. Berufsschriftsteller gab es nur einige wenige, und selbst Erfolgsautoren wie James Fenimore Cooper und Washington Irving finanzierten die Herstellung ihrer Bücher selbst und mussten sich für den Vertrieb Verleger suchen. Im Glücksfall blieb ihnen dadurch ein besserer Profit.
Zwischen 1825 und 1830 kam es zu einem sprunghaften des Marktes regelmäßig erscheinender Zeitschriften: ihre Zahl vermehrte sich um das 600fache. Dazu hatten verschiedene Faktoren beigetragen: die Einführung der dampfgetriebenen Druckerpresse 1827, die Verbesserung des Bildungssystems, die Zugänglichkeit besserer und billigerer Brillen und schließlich der Ausbau des Eisenbahnnetzes, das immer mehr leichte Reiselektüre notwendig machte.

Am 3. September 1833 erschien die erste Ausgabe der „Sun“ und löste eine Revolution der amerikanischen Presselandschaft und der Belletristik aus. Das Blatt verpflichtete sich radikal dem Massenkonsum. Mit einem Penny kostete die „Sun“ nur ein Sechstel des üblichen Preises, der Vertrieb erfolgte nur auf der Straße und nicht durch Abonnements. Mit einer wohligen Grusel erregenden Sex-and-Crime-Berichterstattung wurde sie schnell erfolgreich und überall im Land kopiert. Ihr schmuddeliger pseudo-journalistischer Stil wurde auch von den Schriftstellern der Zeit kopiert, deren Erzeugnisse wiederum oft in Magazinen ihr Publikum fanden.

Edgar Allan Poe musste sein Geld als Redakteur (und erbarmungsloser Literaturkritiker) des „Southern Literary Messenger“ verdienen und fand in jenen Jahren nur wenig Zeit zum Schreiben. In Texten wie „Das Manuskript in der Flasche“ huldigt auch er dem aktuellen Trend, doch er hat bereits erkannt, dass auch bei Grusel-Literatur etwas Ironie nötig ist, ein parodistisches Element, das seinen Mitbewerbern um die Lesergunst zumeist völlig abgeht.
In der Fortsetzungsgeschichte, die heute als sein einziger Roman gilt, geht er noch einen Schritt weiter. „Die Abenteuer des Arthur Gordon Pym aus Nantucket“ will als seriöser Tatsachenbericht gelesen werden und beginnt folglich mit der realistischen Schilderung einer Ausfahrt auf hohe See. Doch schon bald wird der Tonfall des Ich-Erzählers immer phantastischer und grotesker, und Poe kommt dort an, wo ihn der heutige Leser freudig erwartet. Das Finale ist ein irrer Spuk, ein weißes Rauschen irgendwo zwischen psychedelischer Drogenliteratur und H. P. Lovecraft, der sich ein knappes Jahrhundert später ausdrücklich auf „Pym“ bezieht. Lovecraft sollte das Streben dieses Romans nach einem glaubwürdigen Tonfall, der die wildesten Exzesse in penible Recherche einbettet, zur Perfektion bringen.

Der immense Unterhaltungswert von Poes Abenteuererzählung entspringt jenen Aspekten, die sie für 120 Jahre zum obskuren Un-Werk gemacht haben: die ungeheure Frechheit, mit der der Erzähler einfordert, seine Schauerballade für bare Münze zu nehmen, das Mäandern zwischen Bildungsroman und Initiationsgeschichte, Abenteuerroman für Erwachsene und dem eher episodischen Werk eines „Meisters der Kurzgeschichte“, der seine Schwierigkeiten mit der langen Form hat, zwischen Persiflage, Satire, Allegorie und Traumgeschichte, zwischen Esoterik und Science-Fiction.
Heute führt ein direkter Weg von Poes „Pym“ über Lovecrafts „An den Bergen des Wahnsinns“ zum arktischen Pflanzenmonster kosmischen Ursprungs, dem oft kopierten „Ding aus einer anderen Welt“.

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