Die wiedergefundene Textstelle: Züchtigung auf See

betr.: 200. Geburtstag von Herman Melville

Als junger Autor hatte Herman Melville großen Erfolg mit den Erzählungen, die auf seinen Hoch- und Südsee-Erfahrungen beruhten. Was wir heute als seinen größten Beitrag zur Weltliteratur auffassen – „Moby Dick“ – wurde jedoch von seinen Zeitgenossen überaus ungnädig, ja geradezu feindselig aufgenommen. Melvilles Karriere erholte sich nicht mehr. Der Rest seines Werkes – so auch die heute hochgeschätzte Erzählung „Bartleby, der Schreiber“* – entstand in einer Phase der Obskurität, in der er von der Unterstützung durch seinen Schwiegervater existierte. Melville endete als Zollbeamter im New Yorker Hafen. Erst wurde er zu Lebzeiten für tot erklärt. Als er tatsächlich starb, wurde er in einem der raren Nachrufe nur als „Hiram Melville“erinnert.
Melvilles Wiederentdeckung setzte erst 1924 mit der Veröffentlichung des unvollendeten „Billy Budd“ ein, der später die Grundlage für eine Oper bildete.

In seinem Frühwerk „Weißjacke“ beschreibt Herman Melville seine Erlebnisse und Beobachtungen dem Kriegsschiff „United States“, ohne dieses namentlich zu nennen. Es geht ihm dabei ganz allgemein um eine Schilderung der Gepflogenheiten auf See. Viel Raum nimmt das Ritual der Auspeitschung vor versammelter Mannschaft ein.

„Alle Mann antreten zum Strafvollzug! Ahoi!“
Bei dem Befehl drängte sich die Mannschaft um den Großmast, die Mehrzahl gierig, einen guten Platz auf den Spieren zu erlangen, wo man alles überschaute. Viele lachend und schwatzend, andere das Vergehen der Angeklagten erörternd. Einige mit betrübter oder besorgter Miene oder mit unterdrückter Entrüstung im Blick. Ein paar absichtlich im Hintergrund sich haltend, um nicht zusehen zu müssen. Kurz: unter fünfhundert Mann war jede mögliche Schattierung der Seelenart vertreten.

Diesmal werden einige Delinquenten der Rauflust beschuldigt. Den ersten dreien scheint das Ritual nicht viel auszumachen.

Der vierte und letzte war Peter, ein Kreuzmast-Junge. Er hatte oft geprahlt, er sei noch nie am Fallreep gedemütigt worden. Am Tag zuvor hatte seine Wange das übliche Rot getragen. Jetzt aber war er bleich wie ein Geist. Als er an das Gatter gebunden war und das Schaudern und Zittern auf seinem blendend weißen Rücken sichtbar wurde, wandte er flehend seinen Kopf herum. Doch seine weinenden Bitten und Gelübde der Reue halfen nichts.
„Ich würde auch dem allmächtigen Gott nicht verzeihen!“ schrie der Kapitän.
Der vierte Bootsmannsmaat trat vor, und beim ersten Schlag schrie der Junge: „Mein Gott! O mein Gott!“ und wandte und krümmte sich, dass das Gatter vom Ort gerissen wurde und sich die neun Schwänze der Katze über seinen ganzen Körper verbreiteten.
Beim nächsten Hieb heulte, tobte und zuckte er in unerträglicher Qual.
„Was halten Sie inne, Bootsmannsmaat?“ schrie da der Kapitän. „Weiter!“
Und das volle Dutzend wurde ausgemessen.

Dieses Dutzend wird ausführlich geschildert.

„Mag nun mit mir geschehen, was will“, stöhnte Peter, als er mit blutunterlaufenen Augen zur Mannschaft zurücktrat und sein Hemd anzog. „Einmal haben Sie mich ausgepeitscht. Und sie können es wieder tun, wenn sie wollen. Sie sollen sich in Acht nehmen vor mir!“

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* Siehe dazu auch https://blog.montyarnold.com/2014/10/07/drei-geschichten-ueber-den-cyberspace/

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