Die Aufblende (1)

Erlebnis eines Ohrenmenschen

Es war ein ganz gewöhnlicher Sonntagnachmittag in einer westdeutschen Kleinstadt Ende der 70er Jahre. Ich war vierzehn oder fünfzehn, also ein Teil dessen, was wir Jahre später als „Generation Golf“ bezeichnet haben. Mein Schulfreund Frank und ich lagen auf dem Teppichboden im Wohnzimmer und spielten Schallplatten auf dem Plattenspieler seiner Eltern ab. Das mochten die nicht so gerne, und deshalb schonten wir ihre Nerven und taten das Verbotene, wenn sie nicht in der Nähe waren. – Ich will nicht herzlos sein: verboten war es nicht, nur eben nicht gern gesehen. Und Frank und ich brachten sogar die Platten selber mit, um das elterliche Archiv zu schonen.
Um uns verstreut lagen Dutzend Singles, die wir gemeinsam auf dem Flohmarkt gekauft hatten. Um unsere Investition nicht in den Sand zu setzen, hatten wir uns vorgenommen, sie wirklich alle mindestens einmal anzuhören. A-Seite und B-Seite und auch die Titel, die wir für einen Nachlass von einer Mark noch dazubekommen hatten, um den Verkäufer zu entlasten.
Einmal haben wir dann doch gemogelt. Einvernehmlich und ohne ein Wort darüber zu verlieren schoben wir eine Single von Dunja Rajter weit unters Sofa und damit aus der Schusslinie.

Da lagen wir nun auf dem Teppich, und auf dem Plattenteller drehte sich „Immer wieder geht die Sonne auf“. Ich mochte dieses Lied fürchterlich gerne. Aber weil Frank, der mir in puncto Coolness einiges voraus hatte, auf Elvis schwörte und die LP „Eis am Stiel“ als seine Lieblingsplatte bezeichnete, sagte ich nichts dazu. Ich ließ mich vom glockenhellen Optimismus des jungen Udo Jürgens betören, und dabei umspülte mich ein ziemlich fettes Orchester mit richtigen Streichern und einem Chor.
Wir schauten einander nicht an, während eine Platte lief. Wir redeten auch nicht währenddessen; ich bewunderte Frank insgeheim dafür, dass es möglich war, auf diese Art mit ihm gemeinsam Musik zu hören. So konnte er mein dummes Gesicht nicht sehen, als der Refrain einsetzte, der bei jedem Durchlauf größer und gewaltiger wurde.
Die zweite Strophe war zuende, Udo Jürgens machte eine kurze Generalpause, und dann brausten Chor und Orchester noch einmal los – entfesselt, anarchisch, archaisch. Die sphärisch-durchgeknallten Sopranstimmen kannten kein Halten mehr, und ich war kurz davor, in selige Tränchen auszubrechen, da geschah das Grauenvolle. Erbarmungslos zog der Arm des Tontechnikers den Regler nach unten, und innerhalb weniger Augenblicke löste sich der ganze Frohsinn auf. Der Mief eines ereignislosen Kleinstadt-Wochenendes trat wieder in seine Rechte. Es war wie eine Vertreibung aus dem Paradies.

Auch Frank löste sich nun aus seiner Lauschposition und erschrak ein wenig bei meinem Anblick. „Was ist denn los?“ fragte er –offensichtlich nicht annehmend, dass mein Stimmungsumschwung etwas mit der Musik zu tun hatte.
„Ach nichts“, log ich, fuhr dann aber fort: „Ich finde nur … also da … da fehlte doch was. So ein, zwei Tönchen hätten doch da noch drangehört.“ Natürlich wusste ich, dass Ausblenden zum Single-Schallplatten-Auflegen ganz einfach dazugehören; das kannte ich aus dem Radio. Aber auf die Schnelle fiel mir keine bessere Erklärung für meinen Zustand ein.
Frank sah mich etwas irritiert an. Meine gelegentlichen Anwandlungen, kulturelle Kleinigkeiten – wie Synchronstimmen oder das Essverhalten von Comichelden – nahmen in letzter Zeit zu, und er saß sie wacker aus. Er tütete die Scheibe wortlos ein und legte Mouth And MacNeal auf den Plattenteller. Unsere gemeinsame Kindheit ging in jenen Tagen dem Ende entgegen. Frank sollte sich kurze Zeit später ausschließlich für Mädchen und deren Interessen interessieren, und seine Eltern mussten sich um den Plattenspieler nicht mehr sorgen.
Er hatte ja im Grunde recht – was war schon so eine doofe Ausblende?
Ich hatte aber auch recht.

Ich habe seither oft an die alten Jazzer gedacht, die die ersten Schallplattenaufnahmen der Popmusik gemacht haben. Damals hatte jeder Song beim ersten Mal fehlerfrei zu sitzen – sonst konnte man die ganze Matrize wegschmeißen und musste von vorne anfangen – „Direct to Tape“ hieß das etwas später, als man immerhin schon auf Band produzieren konnte. Ausblenden konnte man damals gar nicht, und das wollte auch niemand. Im Jazz hat jeder Titel ein richtiges Ende, und nicht selten ist dieses Nachspiel so fetzig und beglückend, als sei der ganze vorherige Song sei nur aus diesem Grunde überhaupt gemacht worden. Nur, damit es am Ende eine solche Belohnung dafür gibt: Bum-baba-da-daaaaa-Pschschsch – Brrr-Bop! Ein absurder Gedanke, jemand hätte sich aus einem solchen Werk herausschleichen wollen.

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