Der Corona-Effekt

Ein Schauspielschulbesuch

Wenn es sich ergibt, gehe ich gerne zu Aufführungen von Schauspielschulen, in denen die Zöglinge ihren handwerklichen Status präsentieren können. Die aparte Atmosphäre solcher Veranstaltungen wird großenteils vom heißblütigen Lampenfieber der Auftretenden bestimmt, in das sich das allgemeine Wohlwollen von Freunden, Verwandten, Liebhabern und Ehemaligen hineinmischt – was bei gewöhnlichen Theateraufführungen so nicht aufkommt.
Die verantwortlichen Dozenten wirken bei derartigen Anlässen im Vergleich weitaus gelassener, erleichtert, fast schon abwesend. Dabei sind es zuallererst sie, deren Leistung hier zur Schau gestellt wird.

An einem solchen Abend wurde ich kürzlich Zeuge eines sphärischen Phänomens.
Einen der Jungen kannte ich schon von früheren Auftritten in diesem Hause und wusste um seine herausragenden Möglichkeiten. Diesmal war er vor der Pause bereits in einer Fehlbesetzung zu sehen gewesen – und hatte auch darin geglänzt. Im zweiten Teil des Programms kam er nochmals kurz heraus, um zwei Mädchen bei einer klassischen Szene zu unterstützen. (Die beiden Damen im Stück sind an ihm, also am selben und zumeist abwesenden Mann interessiert …)
Zuvor trat eine effektvolle, schlanke junge Frau auf, wallendes schwarzes Haar, Typ „steiler Zahn“, etwas halbseiden, offenbar reichlich schlicht und archaisch, ihre Langbeinigkeit noch steigernde Pumps an den Füßen. „Wow!“ denke ich. Welch ein entsetzliches Luder! Was für ein verkommenes Flittchen! Großartig gemacht!
Wenige Dialogzeilen später muss ich erkennen, dass eine Verkleidung hier gar nicht vorliegt. Die offensive, perfekt alle Klischees bedienende Billigkeit dieser Erscheinung hat sich einfach so ergeben, weil keiner der Verantwortlichen das Mädchen gebeten hat, sich für den Auftritt irgendwie zurechtzumachen. Auch sonst verhält sie sich keineswegs wie eine Darstellerin im weitesten Sinne. Ihre wie wahllos herausgekrähten Sätze erinnern mich an die weibliche Nebenrolle einer berühmten Kriminalkomödie, in der ein Mafiaboss sich als Finanzier einer Broadway-Show betätigt, um seiner Konkubine eine Schauspielerkarriere anzuschieben.

Dann tritt ihre Gegenspielerin auf. Sie wiederum ist (der Abend neigt sich bereits dem Ende zu) mit Abstand die beste weibliche Kraft des Jahrgangs. Sie wirkt etwas älter (was sie nicht ist) und weiß sehr genau, was sie tut.
Als ihre fesche Partnerin zu einem neuerlichen Schimpfmonolog anhebt, schriller als die vorherigen, habe ich mich längst von der literarischen Vorlage abgekoppelt. Ich lese im Gesicht der Zuhörerin und Mitspielerin. Die fällt keinen Augenblick aus ihrer Rolle.
Irgendwann kommt auch der erwähnte junge Kollege auf die Bühne, und die beiden Guten stehen kurz beiseite, um der rasenden Brünetten gemeinsam zu lauschen. Als die Aura der Zwei sich verbindet, entsteht so etwas wie ein emotionales Zentrum im Bühnenhintergrund, ein ganz und gar wahrhaftiger Teil des Bildes, den man glaubt, mit den Händen greifen zu können, während sich im Vordergrund der Bühne unter grässlichem Getöse ein Katarakt auftut.

Ich frage mich, wie ein zahlendes Publikum auf diese Versuchsanordnung reagiert hätte. Vermutlich hätten sich nicht wenige gefunden, die von einem Konzept ausgegangen wären („ein verwegener Regie-Einfall“ – Hamburger Abendblatt).
Die Freunde, Verwandten, Liebhaber und Ehemaligen im Saal bleiben gelassen. Ihnen geht es schließlich nicht um einen reinen Kunstgenuss.
Ich bin gewiss der einzige, dem hier und heute aus dem besagten Grund die Spucke weggeblieben ist. So ganz vermag ich mich nie aus der Position des Konsumenten zu lösen, der einfach eine Geschichte erzählt bekommen möchte.

Wenn es sich ergibt, gehe ich gerne zu Aufführungen von Schauspielschulen.

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