Wer liest, der bleibt – Dichtergesang, literarisches Kabarett und Poetry Slam
Wer die zweibändige, über tausend Seiten starke „Geschichte der literarischen Vortragskunst“ des in Potsdam lehrenden Germanisten Reinhart Meyer-Kalkus studiert, bemerkt, dass die heutige Stand-Up Comedy ihre frühsten Vorläufer nicht im Schauspiel hat, sondern in der Vortragskunst der Antike.
Alles begann mit Sappho, der wichtigsten Lyrikerin des Altertums, und den Aoiden (sprich: „Aöden“). So bezeichnete man in der griechischen Antike Dichtersänger, die ihr eigenes Material vortrugen. Damals herrschte unter den Gelehrten noch die Befürchtung, dass Niederschrift der Sprache hinderlich sei und jede Überlegung an ein Ende bringe. Die dennoch einsetzende Verschriftlichung brachte die Rhapsoden hervor, die nun fremdes Material wie Lieder und Epen vorfinden und mündlich interpretieren konnten. Erst danach traten die Tragöden auf den Plan, die das Theaterspiel begründeten.
Was hat das mit uns Heutigen zu tun? Als typischen Epigonen der Aoiden können wir Leonard Cohen oder Sebastian Krämer betrachten (der immer wieder zum Kabarett gerechnet wird, obwohl er sich als Chansonnier versteht). Zu den Rhapsoden wären im Bereich Wort Oskar Werner oder Klaus Kinski zu zählen, in der Musik solche Vertreter, die sich für Cover-Versionen nicht zu schade sind, etwa Andy Williams, Joe Cocker oder die jungen Teilnehmer industrieller Talentshows. Unter den Schauspielern wiederum fanden und finden sich viele, die außerdem lesen und rezitieren, und zumindest in Deutschland hat so ziemlich jeder von ihnen außerdem eine eigene Band. Der Kreis schließt sich.
Das Schwanken zwischen Erschaffung und Neuinterpretation, zwischen hohem und volkstümlichem Ton ist seit Alters her ein Bestandteil der Vortragskunst. (Meyer-Kalkus behandelt von Klopstock und Rilke über die Kultur der Sprechplatte alles bis hin zu Slam und Rap.)