Als Fake überzeugend

Wenn in Bühnenmusicals genau der eine Song fehlt, auf den alle warten – etwa der Super-Oldie „Pretty Woman“ in „Pretty Woman“ oder „My Heart Will Go On“ in „Titanic – Das Musical“ -, dann hat das immer einen Grund. Natürlich könnte man ihn den Menschen erklären (es geht jedesmal um Geld), aber es tut niemand. Der Veranstalter hofft, das Publikum bemerke die Leerstelle nicht oder ginge wegen der überwältigenden Qualität der gesamten Darbietung darüber hinweg. Diese Missachtung der kollektiven Zuschauererwartung ist – allen ungesagten Ausreden zum Trotz – herablassend.
Der heftigste (wenn auch nicht prominenteste) derartige Fall war im Jahre 1988 die Bühnenfassung des Musikfilms „Fame“ von Alan Parker. Der Refrain des gleichnamigen Titelsongs wurde im Laufe der Show einmal kurz angespielt, als müsste man sich einer Pflicht entledigen. Der Rest des Repertoires aus dem Film fehlte völlig. Auch Handlung und Personal wurden neu erfunden, nur das Thema blieb: die Ausbildung eines Jahrgangs zu Musical-Darstellern.

Ich sah diese Show damals im Hamburger Schauspielhaus und fühlte mich wegen der faden neuen Musik richtiggehend verladen. Der zu Beginn präsentierte Song „I Want To Make Magic“, in dem einer der jungen Künstler seine Motivation beschreibt, eine Bühnenkarriere anzustreben, ist ein gutes Beispiel für das inhaltliche Dilemma (immerzu nur Behauptungen), ging aber immerhin ins Ohr.
Auf deutsch hörte und sah ich ihn bei einer Abschlussprüfung an einer Musical-Schule einige Jahre später wieder, und erst jetzt funktionierte er für mich.
Naturgemäß wurde „Ich will sie verzaubern“ diesmal nicht an ein Publikum adressiert – das alle Bezauberung verdient, nachdem es in eine Eintrittskarte investiert hat. Der junge Kollege machte ganz buchstäblich einen Knicks vor der Prüfungskommission und umgarnte ganz offensiv jene, für sein berufliches Fortkommen notwendig sind. Mir ist bewusst, dass niemand ein Publikum entzücken wird, dem dies nicht zuvor mit gewissen Entscheidungsträgern gelungen ist, die ihm den Zugang zu seinem Auditorium erst ermöglichen. Trotzdem grauste mir vor der berechnenden Scheinheiligkeit, die nun aus diesem Song sprach. Ein Song, der mich in diesem Zusammenhang tatsächlich überzeugte.

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