betr.: Übergangszeit von Kabarett zu Comedy (90er Jahre)
„Unsinnsspäße“ und Begehrlichkeiten
Wann immer eine Ära beginnt, muss eine andere zuendegehen. Die Comedy trat in ihrer deutschen Variante an die Stelle des Kabaretts. Das Kabarett verschwand natürlich nicht, doch es büßte seine angestammte Vormachtstellung in der Kleinkunst ein, seinen Rang als volkstümliche Kunstform des gesprochenen Wortes jenseits der Theaterbühne. In seinen Reihen regte sich Unmut über diese wilden Gesellen, „die sich jetzt Comedians nannten“, die TV-Sendeplätze verstopften und ordentlich Kasse machten, ohne sich um Brecht, Klabund oder die „Tagesschau“ zu scheren.
Dieser Kulturkampf ist längst verraucht, doch einige Zeugnisse haben sich erhalten.
Reinhard Hippen war der Gründer und langjährige Leiter des „Deutschen Kabarettarchivs“, das er aus seiner Privatsammlung heraus errichtet hatte und schließlich aus Alters- und Gesundheitsgründen in eine Stiftung überführte. Das Archiv befindet sich in Mainz, in Laufweite des „Unterhaus“, das in der Bonner Republik die wichtigste deutsche Kabarett-Gastspiel-Bühne gewesen ist. Reinhard Hippen war dort der häufigste Gast.
Er hat zunächst versucht, aus der Materialfülle der Sammlung und der vielen geführten Gespräche eine Buchreihe zu entwickeln, die es leider nur auf wenige Ausgaben bringen sollte. (Die hübschen Bände der Serie „Kabarettgeschichte-n“ im pendo-Verlag trugen die Nummern 4, 9, 10, 13 und 14). Sein anderes langgehegtes Lieblingsprojekt erfüllte sich erst 1996. Gemeinsam mit dem renommierten Fachautor Klaus Budzinski brachte er schließlich „Metzlers Kabarett Lexikon“ heraus.
Das war 1996, zu einem Zeitpunkt, da die Comedy-Welle sich auf ihrem Höhepunkt befand und sich als dauerhafte Programmfarbe in den Medien etablierte.

Dem Begriff „Comedy“ ist eine ganze Seite gewidmet, die in ihrem Gegenstand einen Feind der guten alten Brett’l Kunst ausmacht: „Die Comedy setzte demgegenüber zunächst auf die Pose des betrunkenen Proleten. Karl Dall, Jürgen von der Lippe, Mike Krüger u.a. waren komisch, weil sie unter dieser Maske bei den Privatsendern durften, was im Medium sonst nicht erlaubt war: Zoten reißen und ihre Gäste anpöbeln. Mit den Comedians etablierte sich demgegenüber in den neunziger Jahren eine Komik der Infantilisierung durch verspielte, bisweilen offen alberne Unsinnsspäße bis zur alkohol-fäkalisch-sexuellen Einfärbung.“
Details wie das letzte nachlässig deklinierte Kombi-Adjektiv und die stehengebliebene Wortwiederholung lassen auf einen erregten Gemütszustand des Autors schließen*. Diese Laune übertrug sich auch auf Teile der Leserschaft. Ein Münchner Kollege aus dem Kreis des „Quatsch Comedy Club“ dachte dabei empört „an ein Biologiebuch der Nazis“.
Mit etwas Abstand kann man dem Eintrag mindestens ein paar fachliche Nachlässigkeiten nachweisen, vor allem, was Definition und Einordnung betrifft.
Mit den Beispielen Dall und Krüger werden zwei Vertreter genannt, die ihren Ursprung bereits in der Blödel-Welle der 70er Jahre haben. Ebenso wie Jürgen von der Lippe, der Anfang der 80er seinen großen Durchbruch erlebte, sollten sie freilich in der Comedy-Szene gut zurechtkommen.
Gleich mit abgewatscht wird in diesem Eintrag die (sehr komische!) SWF3-Nonsens-Funkreihe „Feinkost Zipp“, weiterhin die Filmkomödien von Detlef Buck und Sönke Wortmann …
Selbstverständlich muss man all diese Künstler und ihre Produkte nicht mögen, und einzelne Fehler können sich immer einschleichen, doch ein so fundiertes Desinteresse am eigenen Gegenstand steht einem „Lexikon“ nicht gut zu Gesicht.
Die Herausgeber wären gut beraten gewesen, es so zu halten wie Willam K. Everson, der sein Buch über den klassischen Horrorfilm mit der Bemerkung abschließt, die Beurteilung aktuellerer Titel bliebe „zukünftigen Chronisten mit unempfindlicherem Magen vorbehalten“.
______________________
* Reinhard Hippen war ein zutiefst sanftmütiger Mensch, dem ich diese Formulierung wie auch den gesamten Artikel nicht zutraue.
Auszug aus dem Essay „Humor Omnia Vincit“