Wehret den Auswüchsen!

betr.: Invasoren im Kapitol

Der Satz „Wehret den Anfängen!“ ist eines dieser geflügelten Worte, die uns allen widerstandslos über die Lippen gehen. Doch Popularität ist nicht unbedingt gesund für eine Botschaft – die erwähnte ist das beste Beispiel dafür. Eine Wahrheit wird auf diese Weise schnell zum Wischiwaschi-Spruch, bei dem sich niemand mehr etwas denkt.
Das Kopfschütteln einiger Mitmenschen über Wolfgang Schäubles Anordnung, den Reichstag zu sichern, um ihn vor Unbill nach dem Vorbild der Stürmung des Washingtoner Kapitols zu schützen, ist ein schönes Beispiel: ein solches Szenario wird von vielen gar nicht als Anfang von oder Symptom für irgendetwas wahrgenommen, dessen man sich erwehren müsste. Die Ansage, mal solle sich doch wegen der paar Deppen nicht so haben, die vor einigen Monaten die Treppen unseres Reichstags erobert hätten, habe ich sogar im engeren Freundeskreis hören müssen. Natürlich nicht aus dem Munde eines Nazis, sondern eines Menschen, der die immer dreister werdenden Unterwanderungen unserer gemeinsamen Grundsätze nicht für schlimm hält, solange noch nicht alles zu spät ist.
Ich denke, uns allen fallen solche Situationen ein – hinsichtlich der Pandemie oder im Zusammenhang mit Donald Trump, dem anfangs unterstellt wurde, das Amt werde ihn schon präsidialer machen.

Armer Donald Trump! Es hat Demokratien gegeben, die sich leichter beseitigen ließen, aber auch dafür brauchte man einen langen Atem.
Ein Buch, das vom Gelingen solcher Bemühungen erzählt, sind die Lebenserinnerungen von Ernst Hanfstaengl, der einem gewissen österreichischen Postkartenmaler als Berater und Türöffner in feineren Kreisen diente. Später wurde er zu dessen Auslandspressechef. Das Buch trägt den Titel „Zwischen Weißem und Braunem Haus – Erinnerungen eines politischen Außenseiters“.
Der eigentliche Held dieser Geschichte hätte es nie zum Reichskanzler gebracht, wenn ihm nicht eine ganze Anzahl von Leuten – wie eben jener Hanfstaengl, Spross eines geachteten Verlagshauses – geholfen hätte. Diese Helfer lassen sich in zwei Gruppen unterteilen, die es auch in der Republikanischen Partei gegeben hat. Einmal gab es jene, die den effektvollen Emporkömmling benutzen wollten, um mit ihm an die Macht zu kommen, um ihn sich danach gefügig oder ihn schlichtweg unschädlich zu machen (das waren die weniger Schlauen). Die Angehörigen der anderen Gruppe (die Intelligenteren, aber letztlich Naiven) teilten einige der Ansichten des Agitators und vertrauten darauf, er würde seine wüsteren Ansichten korrigieren und sich beruhigen, sobald er die gewünschte politische Verantwortung errungen hätte. (Bei Trump nannte man das „präsidial werden“.) Das ist die Gruppe, zu der auch Hanfstaengl gehörte.
Das Buch unterscheidet sich von anderen „Lebensbeichten“ ehemaliger Nazi-Vertrauter durch seine Ehrlichkeit. Die überbordende Eitelkeit des Erzählers befördert einen hochamüsanten Stil und trägt dazu bei, dass er sich im Rückblick selbst nicht schont. Er wollte auch dann noch an seinen „Führer“ glauben, als dieser befremdliche Regeln einführte (wie die Verpflichtung, sich zum gereckten Arm mit seinem Namen zu grüßen) und als die Demokratie offensichtlich im Eimer war (spätestens beim Röhm-Putsch, wie der Sohn des Autors es später einordnete).
Hanfstaengl musste schließlich vor seinem Arbeitgeber fliehen und diente im Exil Präsident Roosevelt als geheimdienstlicher Berater.

„Zwischen Weißem und Braunem Haus“ ist das intelligenteste und erhellendste Buch zum Thema neben der Winifred-Wagner-Biographie von Brigitte Hamann und der späten Beichte von Traudl Junge.

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