Eine Art Kunststück

betr.: Sprechen am Mikrofon

Das Zeitgefühl unerfahrener Akteure auf der Bühne unterscheidet sich stark von dem am Mikrofon. Wer sich die Präsentation einer Schauspielschule ansieht, wird feststellen, dass alles zu lange dauert: die Zeit, die vom Auftritt bis zum ersten Wort vergeht, die zu zahlreichen Pausen, der Vortrag insgesamt. Nun hat die Bühne ja den magischen Effekt, dass man dort gern verweilen, den eigenen Aufenthalt und den Umfang der eigenen Rolle vergrößern möchte. (Manche Kollegen erliegen dieser Magie so vollständig, dass sie ihr bis ins hohe Berufsalter aufsitzen.)
Beim Lesen vom Blatt sind – umgekehrt – immer alle zu schnell. Der Bitte, es langsamer anzugehen (um es selbst sorgfältiger gestalten zu können und um den Zuhörer nicht mit Eile zu plagen) wird nur wiederwillig entsprochen. Ganz oft bekomme ich zu hören: „Ich hätte schwören können, dass ich jetzt deutlich langsamer gewesen bin!“ – obwohl sich am Tempo nichts geändert hat.

Woher kommt dieser sinnlose Reflex, zu schnell zu lesen – und dann umso mehr Fehler zu machen?
Er hat seinen Ursprung in einer alten Menschheitsmarotte: dem Wettstreit.
Wer etwas vorführt, will zeigen, wie gut er es kann. Und gutes Können ist per se mit Tempo verknüpft. Wer zögert oder zaudert, erregt den Verdacht, nicht geübt zu haben oder nicht begabt zu sein. Wer sich Zeit lässt, kaschiert damit womöglich eine Unsicherheit.
Wenn wir einen fremden Text laut und fließend vom Blatt zu lesen versuchen, sind wir ganz auf diese archaische Programmierung zurückgeworfen. Wir wollen schnell sein, weil wir es gut machen wollen.

Auf dieser fragwürdigen Maxime hat sich die ganze menschliche Zivilisation gegründet – angefangen mit der Jagd auf zu erlegendes Wild oder der Flucht vor einem Raubtier, manifestiert in sportlichen Wettkämpfen und den Mutproben der Heranwachsenden, gefeiert in Generationen von TV-Formaten, in denen Kandidaten einander zuvorkommen müssen. Wir alle haben dieses Klischee mit der Muttermilch aufgenommen und verinnerlicht. Auch wenn wir ihm persönlich gar nicht nacheifern wollen und längst die Entdeckung der Langsamkeit gemacht haben, ist es unbewusst die Matrix unserer Gewohnheiten.
Auf der Bühne ist sie plötzlich außer Kraft gesetzt. Das ist vermutlich ein kleiner Teil des Zaubers, der von diesem Ort ausgeht.

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