Sprechen am Mikrofon: Am Anfang war (ist und bleibt) das Wort

Prima-Vista-Lesen ist eine der handwerklichen Grundlagen der Schauspielerei. Wer nach dem Abschluss seiner Ausbildung nicht ausschließlich als Pantomime arbeiten, im Improvisationstheater aufgehen oder sich der Performance zuwenden will, wird in Filmen oder Stücken spielen. Und die Texte dazu werden schriftlich verabreicht.
An Schauspielschulen wird zwar Sprecherziehung unterrichtet, aber das bedeutet lediglich die Korrektur von Lese- oder Sprachfehlern. Das fließende und fehlerfreie Lesen eines zuvor unbekannten Textes steht nicht auf dem Lehrplan. Es wird als eine Kür betrachtet, ein Kunststück, das man behandeln könnte, wenn die Zeit es erlaubte. Eine solche Einordnung mag in der Musik richtig sein – bekanntlich hat es sehr gute Musiker gegeben, die gar keine Noten lesen konnten -, doch wenn es um Sprache geht, ist gutes Lesen unerlässlich. Im Sinne eines guten Textverständnisses.

Natürlich bemerken die Dozenten im Laufe der Ausbildung, wenn die Studierenden auf diesem Gebiet Lücken haben. Aber aus irgendeinem Grund wird hier nicht eingegriffen. Stattdessen werden „Tricks“ und gute Ratschläge mit auf den Weg gegeben, die ich regelmäßig im Unterricht erfahre. Ich höre zum Beispiel immer wieder: „Die Infinitiv-Endung ‚-en‘ muss grundsätzlich betont werden!“, „Jeder Satz muss auf der letzten Silbe betont werden, damit man den Punkt hört!“ oder ähnlichen Unfug. Einer bekam sogar den Hinweis, er solle beim lauten Vorlesen mit einer Hand in der Luft eine Acht beschreiben, um sich besser auf den Text konzentrieren zu können.

Die gute und schlechte Nachricht zugleich lautet: es gibt keinen Trick. Wer nicht stolpern, leiern oder sich in einen völlig unnatürlichen Singsang retten will, der muss sich jeden Satz einzeln vornehmen, muss wissen wollen, was er bedeutet (und zwar in seinem jeweiligen Zusammenhang) und sollte ihn begriffen haben, bevor er beginnt, ihn auszusprechen – selbst wenn er den Satz noch nicht vollständig kennt, sondern nur die Struktur erkannt hat.
Alles andere ist gelogen.

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