Die viktorianische Novelle „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ ist ein Phänomen des Medienzeitalters. Bereits in der Stummfilmzeit wurde sie unzählige Male verfilmt und sicher ebensooft parodiert, in der Folge eroberte sie den Tonfilm, die Bühne, den Bildschirm, das Radio, den Comic. Gut 100 Jahre nach ihrer Entstehung setzte sie zu einem neuerlichen Karrieresprung an: sie wurde endgültig zu einem Topos der Popkultur, der Dracula und Frankenstein in nichts mehr nachsteht. Auch mehrere Musicals sind inzwischen vorgelegt worden.
Die immense Beliebtheit des Stoffes hat eine betrübliche Nebenwirkung: das Rätsel dieses Thrillers (Mr. Hyde = der Verborgene) ist schon lange keines mehr. Jeder kennt die Pointe, nämlich dass Dr. Jekyll und Mr. Hyde dieselbe Person sind. Das hat dazu geführt, dass in den Adaptionen von vorneherein der Prozess der Verwandlung und das Doppelleben im Vordergrund stehen und die ursprüngliche – recht attraktive – Mystery-Ebene verloren geht.
Rein äußerlich hat sich der entsetzliche Mr. Hyde in unserer allgemeinen Wahrnehmung als vierschrötiger, haariger Unhold manifestiert, der über gewaltige Körperkräfte verfügt; meistens trägt er ein Cape wie es die Bösewichter in den Londoner Gruselgeschichten des späten 19. Jahrhunderts eben so tragen. (In einer Verfilmung der Hammer Studios ist er ein gutaussehender Verführer, dessen Verkommenheit nur die inneren Werte betrifft, was eine hübsche Variante darstellt.)
Aber wie sah Mr. Hyde tatsächlich aus? Werfen wir einen Blick in den Urtext von Robert Louis Stevenson, der auch in voller Länge eine (Wieder-)Entdeckung wert ist.
Der Kerl war kein menschliches Wesen, er gemahnte an irgendeinen verdammten Klabautermann. Es liegt etwas Schlimmes in seiner Erscheinung, etwas Unangenehmes, etwas geradezu Widerwärtiges. Noch nie sah ich einen Menschen, der mir so missfiel, und dennoch weiß ich kaum, weshalb. Er ist ein ganz ungewöhnlich aussehender Mann, und doch vermag ich tatsächlich nichts in dieser Hinsicht namhaft zu machen.
Ich kann ihn nicht beschreiben, aber es ist nicht etwa eine Lücke in meinem Gedächtnis, denn ich sehe ihn in diesem Moment ganz deutlich vor Augen. Er war klein und äußerst einfach gekleidet, blieb vollkommen ruhig, warf mir aber einen Blick zu, so grässlich, dass mir der helle Schweiß hinunterlief. Mr. Hyde war bleich und gnomenhaft. Er machte den Eindruck eines Verwachsenen, ohne dass man einen Defekt anzugeben vermochte. Mehr noch fiel mir seine anscheinend große Muskelstärke auf, die mit einer sichtlich schwachen Gesundheit verbunden war. Er hatte ein unangenehmes Lächeln. Sein Benehmen war gewissermaßen eine mörderische Mischung von Zaghaftigkeit und Unverschämtheit, und er sprach mit einer rauen, flüsternden und wie gebrochen wirkenden Stimme. Das waren wohl alles Punkte, die gegen ihn einnahmen, aber alle zusammen vermochten nicht diesen bis dahin nie gekannten Widerwillen zu erklären, nicht den Ekel und die Furcht, mit welcher ich seiner gedenke. Irgendetwas ist noch da, für das ich keinen Namen zu finden vermag. Gott schütze mich, der Mann hat kaum etwas Menschliches an sich! Etwas von einem Troglodyten, könnte man fast sagen. Oder ist es nur der Widerschein seiner verfluchten Seele, die hindurchschimmert und den ganzen Körper verunziert? Das wird es sein! Oh mein armer Henry Jekyll, wenn ich je Satans Zeichen auf einem Antlitz erkannte, dann auf dem deines neuen Freundes!