In dieser Reihe werden Filme vorgestellt, deren Helden Komiker sind. Nach einer kurzen Inhaltsangabe werden die Filme hauptsächlich danach beurteilt, wie kundig und glaubhaft sie diesen Beruf abbilden. (Meistens entspricht dieser Aspekt aber auch der Gesamtnote.) Biopics werden an anderer Stelle behandelt.
England um 1955. Der gealterte Music-Hall-Conférencier Archie Rice tritt in einem englischen Seebad auf. Die Ehe mit seiner hochneurotischen Frau Phoebe ist eine Qual für beide und für die drei herzensguten erwachsenen Kinder Frank, Jean und Mick. Auch in besseren Tagen war Archie nie so souverän und erfolgreich wie sein Vater, der etwas klapprige aber fröhliche Billy.
Mick wird an die Front geschickt, Jean, die sich in sozialen Projekten engagiert, beobachtet mit Grausen, wie ihr Vater einer 19jährigen den Hof macht, der Zweitplatzierten einer von ihm moderierten Schönheitskonkurrenz. Archie verspricht dem Mädchen eine Revuekarriere und bringt ihre reichen Eltern dazu, seine nächste Produktion zu finanzieren.
Als Jean ihrem Großvater davon erzählt, hintertreibt er die Verbindung, indem er die Eltern des Mädchens darüber aufklärt, dass Archie keineswegs Witwer ist. Die Produktion, die Archie bereits angekurbelt hat, platzt. Der alte Billy, der die Folgen seines Handelns nicht vorhergesehen hat, lässt sich zu einer Rückkehr auf die Bühne überreden. Das wird ihm nicht gut bekommen …
Kurioserweise ist ausgerechnet die herzlose Unterhaltungsbranche von einer fachlichen Nachsichtigkeit, die in allen anderen Gewerken (Krankenpflege, Automechanik, Atomphysik, Einzelhandel …) in den Ruin bzw. in eine Umschulung führen würde – oder doch wenigstens zum Hinauswurf. Im Kultur- und Medienbetrieb ist diese Zwangsläufigkeit außer Kraft gesetzt, und so kann man sich beträchtliche Jahre darin halten, ohne den geringsten Funken von Instinkt oder Talent zu besitzen. Sieht man einmal von Fozzie Bär ab, dem schlechten Witzeerzähler aus der „Muppet Show“, wiegt die zu einem solchen Lebenswandel nötige Zähigkeit das Fehlen von Charme, Kunstfertigkeit, Timing oder gutem Material nicht auf. Das gilt besonders in der deutschen Comedy, wo man weder
ein Musikinstrument noch irgendwelche motorischen Kunststücke beherrschen muss, was besonders viele zu der Idee verleitet: „Das kannste auch!“.
Mit der Zeit bilden sich durch die wiederholte Anwesenheit auf den Brettern im Umgang mit dem Publikum gewisse Routinen heraus und simulieren eine professionelle Aura. In Wahrheit wird mit faulen Tricks hantiert. Sehr beliebt ist der, so zu tun als würde man den schlechten Komiker nur spielen und seine Nummern absichtlich versemmeln. Ein anderer beruht darauf, sich einen Namen im Saal verraten zu lassen, um diese Person dann immerfort direkt anzusprechen („Meinst du nicht auch, Beate?“). Diese Sottisen werden natürlich durchschaut, doch das Publikum spielt mit. Kaum jemand wird deswegen ausgebuht oder mit Wurfgeschossen von der Bühne gejagt (schon gar nicht, wenn das Fernsehen überträgt). Doch auch müder Applaus fordert langfristig seinen Tribut. Mit den Jahren legen sich bei diesen „alten Zirkuspferden“ Sarkasmus und selbstgerechte Bitterkeit über die Kalauer, eine dünne Schicht der Publikumsverachtung, eine Schuldverschiebung. Osbornes titelgebender Held Archie Rice lebt das in der Schlussszene exemplarisch aus, wenn er seinen Signature-Song „Why Should I Care?“ abbricht und sagt: „Sie sind ein tolles Publikum. Sagen Sie mir, wo Sie morgen abend arbeiten!“ – um dann die Bühne zu verlassen, während das Orchester noch einigte Takte weiterspielt.
Ein so komplexes Sitten- und Persönlichkeitsbild zu zeichnen, ist sicher noch anspruchsvoller als die Darstellung eines guten Komikers. Nicht zufällig gelang das einem der größten Schauspieler des 20. Jahrhunderts – zuerst auf der Bühne, dann im Film: Laurence Olivier in John Osbornes „The Entertainer“, der bei uns etwas unsauber „Der Komödiant“ heißt, da sich das Wort „Entertainer“ Anfang der 60er Jahre im deutschen Sprachgebrauch noch nicht durchgesetzt hatte.
Nicht nur Olivier und das ihn umgebende Ensemble, auch das Stück selbst hat sich bewährt. Und das, obwohl ihm ein wichtiger Werbeeffekt abgeht. Der ermüdende Slogan „zeitlos aktuell“ verfängt nicht mehr, die Zeit ist mächtig über die zentrale Metapher (der Niedergang der Music Hall als Sinnbild für den Niedergang des britischen Empire) hinweggegangen. Inzwischen mussten wir das offen unseriöse Treiben eines Premierministers namens Boris Johnson mitansehen, dessen unsachliche Komiker-Allüren für ihn (obwohl er nicht einmal vom Volke gewählt war!) lange Zeit gänzlich ohne Konsequenzen blieben – gerade so, als sei er tatsächlich ein Vertreter der Unterhaltungsbranche. Parallel dazu wurde er von seriösen Nachrichtenmagazinen in aller Welt wiederholt als „Clown“ bzw. „Horror-Clown“ bezeichnet.
Es ist beeindruckend, dass Osbornes betagtes Zeitstück – wie auch dessen Verfilmung- ohne diesen doppelten Boden noch immer überzeugt.
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* Siehe auch https://blog.montyarnold.com/2018/10/25/the-entertainer/ und https://blog.montyarnold.com/2021/12/07/why-should-i-care/