Wo kommt unsere Einsamkeit her?

Einsam bist du sehr alleine …
doch am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.     

Erich Kästner

Allein sein zu können, ist ein Luxus! Normalbürgern war es vor hundert Jahren noch gar nicht möglich. Erst mit einem zunehmenden Wohlstands-Mindestniveau erhielten wir überhaupt die Möglichkeit, uns zurückzuziehen wenn wir es wünschen. Damit wurde aber auch die Voraussetzung für das unfreiwillige Alleinsein geschaffen, die Einsamkeit.
Im Allgemeinen finden wir die Ursachen für dieses Übel an der nämlichen Stelle: in unserer Gesellschaftsstruktur. „Schuld“ an der Vereinsamung sind große Strömungen und allgemeine Phänomene: der räumliche Rückzug des Individuums und die soziale Verschratung durch die Sozialen Medien, der Wegfall der alten Großfamilie, die Demografie, die immer mehr Menschen ein Alter erreichen lässt, in dem sie ihrer früheren Kontakte verlustig gehen und zum Aufbau neuer nicht mehr in der Lage sind.
Kurzum: schuld ist der Lauf der Welt, schuld sind die anderen.

Einsamkeit hat aber noch eine zweite Ursache, die mindestens ebenso wichtig ist, von unseren Soziologen aber völlig übersehen (ignoriert?) wird. Sie ist selbstgemacht und daher ungeeignet, an unser Mitleid zu appellieren oder uns von Fragen über uns selbst abzulenken. Der Dichter nennt sie „die Unfähigkeit, mit sich selbst in Frieden in einem Raume zu verweilen“.

Mit der eingangs erwähnten Erlangung „eines eigenen Zimmers“ (Virginia Woolf) und der Bequemlichkeiten, die uns eine immer bessere technische Grundversorgung verschafft hat, fällt uns nämlich auch die Aufgabe zu, die erlangten Freiräume zu bespielen und die freie Zeit inhaltlich auszufüllen. Die meisten Menschen sind schlichtweg nicht in der Lage dazu, sich zu beschäftigen, wenn sie nicht durch die Umstände zu etwas gezwungen sind, was sie freiwillig nicht oder weniger ausgiebig täten: den Haushalt zu besorgen, Geld zu verdienen, Einkäufe zu machen, sein Kind zu erziehen oder seine kranke Mutter zu pflegen. Sobald Muße möglich wäre, vertreibt der Blick auf das Smartphone das Gefühl, sich ein eigenes Thema überlegen zu müssen.
Das Wählen einer geliebten Verrichtung, die man mit der gleichen Strenge gegen die Mitwelt verteidigt wie „etwas Wichtiges“ (also etwas von außen Eingefordertes wie Beruf oder familiäre Einbindung), ist unsere Pflicht, ist ein Gebot der Selbstachtung (diese dramatischen Ausdrücke sind mit Bedacht gewählt).

Die meisten Pensionäre – besonders die, die stets betont haben, sich auf den Zugewinn an Freiheiten und den Wegfall von Fremdbestimmung zu freuen – fallen nach dem letzten Arbeitstag in ein Loch und werden zu einer echten Plage für sich selbst und die Angehörigen. Dass ein Großteil vor allem unserer männlichen Mitbürger seinem erreichten Ruhestand kurzfristig nachstirbt, ist eine statistische Binse.
Ist man erst in eine solche Lage geraten, ist es zu spät, nach einem Hobby Ausschau zu halten. Das wäre so, als wollte man in finanzieller Not mal eben schnell eine größere Summe Geldes zusammensparen.

Viele machen sich über die Definition des Begriffes „Hobby“ auch etwas vor. Ein sehr fleißiger älterer Kollege von mir nannte, nach seinen Lieblingsbeschäftigungen befragt, immer „Kochen“ und „Reisen“. Das sind keine Hobbies, denn sie dienen jeweils einem Zweck: der Zubereitung einer Speise bzw. dem Wechsel des Ortes. Bei meinem Kollegen hatten sie zuallererst einen weiteren verbindenden Nutzen: das Bewirken von Geselligkeit (das Einladen von Freunden zum Essen bzw. das Treffen neuer / potenzieller Freunde beim Verlassen der vertrauten Umgebung). Auch beim Genuss eines spendierten Cocktails unter Palmen wird dem einen oder anderen Eingeladenen seine ständige Zugunruhe aufgefallen sein. Sie rührt von etwas her, was solche Menschen geradezu auszeichnet: die ewige Angst anderswo gerade etwas zu verpassen.  
Als mein Kollege in ein gewisses Alter kam und seine Kräfte nachließen, gingen diese „Freunde“ sogleich stiften. Er hörte auf zu kochen (für sich selbst wollte er es nicht …) und zu reisen (weil es nicht mehr automatisch zu spannenden Bekanntschaften führte). Die vermeintlichen Hobbies „Kochen“ und „Reisen“ hatten bei ihm zum Gegenteil des mit sich selbst allein sein Könnens geführt.

Dieser Beitrag wurde unter Essay, Gesellschaft abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert