„Hamilton“ – Zu interessant für die Zielgruppe?

betr.: übermorgige Hamburger Premiere des Musicals „Hamilton“

Meine Arbeit für die Joop Van Den Ende Academy brachte es mit sich, dass ich viele Jahre lang jede Musicalproduktion der Stage Entertainment ofenfrisch zu sehen bekam, gemeinsam mit den Dozentenkollegen und Studierenden. Was mir persönlich den meisten Spaß machte, hatte nicht automatisch Erfolg bei der Zielgruppe. An zwei Shows erinnere ich mich besonders gern.
2008 wurde in Essen „Ich will Spaß“ gestartet, das um die großen Hits der Neuen Deutschen Welle herumgebaut war. Der 80er-Look war nicht überzeugend getroffen, aber das machte nichts. (Die 80er nachzubilden, ist gar nicht so einfach wie alle glauben!) Die diversen Handlungsstränge und die Charaktere funktionierten, ich mochte auch die Kulisse, die als großes Puppenhaus angelegt war. Außerdem geschah etwas wirklich Überraschendes: die NDW-Schlager, die mich im Original allesamt entsetzlich nerven, waren so pfiffig in die Dialoge eingefügt, dass ich mich zurückhalten musste, nicht mitzusingen. Jeder Song hatte einen neuen Subtext – kein Vergleich mit dem freudlosen Abarbeiten des Repertoires bei „Ich war noch niemals in New York“ im Jahr zuvor.
2012 startete auf der Reeperbahn „Rocky – Das Musical“. Der soziale und berufliche Aufstieg des tumben aber liebenswerten Boxers Rocky Balboa hatte sogar Witz – ganz im Gegensatz zur Filmvorlage. Hauptdarsteller Drew Sarich war so gecoacht worden, dass sich sein Akzent wie der Slang eines Kieztypen anhörte. Ich freute mich über die stimmige Dekoration, in der die Tristesse von Rockys Bude, des Gyms oder Adrians Tierladen präzise bis zur letzten Stromrechnung rekonstruiert waren. Gut – das Michael-Kunze-Gesinge hätte ich persönlich nicht gebraucht, ebensowenig den choreographierten Boxkampf (zumal ich den Eindruck hatte, dass das Publikumsinteresse dabei etwas absoff), aber er leuchtete mir als großes Finale ein, und ich hatte mich bis dahin ja bereits ganz gut amüsiert. Der Plan, „Rocky“ erfolgreich an den Broadway zu bringen, scheiterte erwartungsgemäß.

Beide Shows hätten meiner Meinung nach gern kürzer sein dürfen (es dauert fast alles zu lang, was auf unseren Bühnen geboten wird, auch die guten Sachen). Bei „Ich will Spaß“ war etwa 20 Minuten nach der Pause alles Wesentliche erzählt. Es folgte aber noch eine rührselige Krebstod-Geschichte, die man wohl zu brauchen meinte, weil Unterhaltung allein zu leichtgewichtig sei (in einem Musical!) und weil die Show ohne diesen Appendix nicht auf die übliche Länge gekommen wäre.
Warum darf  eine Aufführung, deren Ticket über 100 Euro kostet, nicht trotzdem 90 Minuten dauern? Hat jemals irgendjemand das Publikum gefragt?    

Diese Dinge gehen mir jetzt wieder durch den Kopf, da abermals eine Musicalpremiere bevorsteht. Und sie ist ambitionierter als alles Dagewesene!  Es ist dieser Tage ausgiebig darüber berichtet worden. Und über den Beginn des Projektes „Hamilton“ in Barack Obamas Weißem Haus, über die erste Übersetzung dieses Musicals in eine andere Sprache, die für Hamburg gefertigt wurde, darüber, wie viel Hingabe auf diese deutsche Fassung verwendet worden ist, auf die Brisanz und Wichtigkeit dieses fast vollständig schwarz besetzten Stücks, über den stilistischen Wagemut der Originalproduktion, ihre Innovation und vieles mehr.
Mir leuchtet das alles ein, doch ich gestehe: mich plagt eine Sehnsucht nach simpler wenn auch intelligenter Unterhaltung, nach Eskapismus – besonders in Krisenzeiten. Und drei Stunden Hip-Hop würde ich gewiss nicht überleben. Aber meine bisherige Zurückhaltung muss ja kein schlechtes Omen sein – siehe oben. 

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