Albträume fürs Mittagsschläfchen

betr.: 36. Todestag von Andrei Arsenjewitsch Tarkowski

Andrei Tarkowskis letzter Film war mein erster. „Opfer“ verschaffte mir einen soliden Vorgeschmack der erbarmungslos getretenen Vollbremse, mit der dieser Regisseur seine Themen verhandelt. Doch nicht nur das. In einer Szene bedrängt der betagte Bergman-Schauspieler Erland Josephson eine deutlich jüngere Frau, im Angesicht des drohenden Weltuntergangs, ein Kind mit ihm zu zeugen. In der Zeitungskritik wurde diese Szene zur „blödesten Anmache der Kinogeschichte“ geadelt. Ich nickte unwillkürlich als ich das las. Der große Tarkowski kann also nicht nur langatmig, er kann auch peinlich, dachte ich.
Aber es war ja wie gesagt meine erste Begegnung mit seiner Arbeit. Ich richtete mich auf Überraschungen ein. Bis heute habe ich keine erlebt.

In der Folge hat mich noch zweimal sehr beeindruckt, wie es dieser Kinoerzähler schafft, aus hochinteressanten Vorlagen Filme zu machen, die sich nicht merklich vom Fleck bewegen, die den ganzen Körper des Betrachters überziehen wie eine gewaltige, erstickende Fresszelle. Immer wieder lese ich mir in Gedanken die Inhaltsangabe des Lem-Romans „Solaris“ vor und brenne darauf, sie endlich verfilmt zu sehen: Der Psychologe Kelvin erhält den Auftrag, zum Planeten Solaris zu reisen, weil aus der dortigen Raumstation nur noch verworrene Botschaften zur Erde dringen. Er wird von einem Kenner der Örtlichkeit vor dem geheimnisvollen Ozean auf diesem Planeten gewarnt. Dort angekommen, findet Kelvin die Station verkommen und die vier übriggebliebenen Crewmitglieder in befremdlicher Verfassung vor. Unter den überraschenden Figuren, die er sonst in der Einrichtung trifft – Kinder und junge Mädchen – läuft ihm plötzlich auch seine verstorbene Frau Hari über den Weg …
Aus der poetischen Trance dieser Kurzinfo erwachend muss ich jedesmal an die drei vergeblichen Versuche denken, die ich im Angesicht von Tarkowskis „Solaris“-Verfilmung unternommen habe, die Augen offenzuhalten. (Warum drei solcher Versuche? Weil man die Anwesenheit der großartigen Grundidee noch immer spürt!)

Noch konsequenter hat der Regisseur seinen populärsten Film versemmelt: „Stalker“. Auch hier macht das Sujet überaus neugierig: die Geschichte eines diebischen Desperados, der berufsmäßig in die verbotene Zone eindringt, die die Regierung um von Außerirdischen zurückgelassene Artefakte errichtet hat. „Stalker“ hat ein noch quälenderes Tempo und überdies ein nassfeuchtes, dreckiges Ambiente. Hat man ihn endlich überstanden, kann man sich bei der Recherche der Hintergründe durchaus amüsieren. Die Autoren der literarischen Vorlage „Picknick am Wegesrand“, die Gebrüder Strugatzki, haben Tarkowski – einem seriösen Gerücht zufolge – wegen Verunglimpfung ihres Werks verprügelt (oder das zumindest vorgehabt). Zuvor hatten sie Jahre damit zugebracht, ihre Geschichte nach den Wünschen des Regisseurs immer wieder umzuarbeiten. Aus dieser Unternehmung ist Tarkowskis Äußerung überliefert, diese oder jene Mühe lohne sich nicht: „Die Zuschauer sind sowieso Dummköpfe!“ Arkadi Strugatzki zitiert sich im Produktionstagebuch: „Ihm ist das Drehbuch zu bunt, es muss langweiliger werden.“ Boris soll ihm geantwortet haben: „Ein Genie ist eben ein Genie … Ertrag es, Bruderherz!“

Tarkowskis Filme sind wie gemacht für internationale (vor allem französische) Filmjournalisten, Medienstudenten und Festival-Kuratoren, die sich nicht dabei ertappen lassen wollen, einen Kunstfilm nicht gemocht oder verstanden zu haben.
Spätestens nach dem Tod des Regisseurs kannte die Verklärung keine Widerstände mehr. Kurz zuvor war Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks von Tschernobyl in die Luft geflogen, was den aktuellen Film „Opfer“ für schlichte Gemüter zur weisen Vorahnung hochdekorierte.
Der Meister war schlau genug, sich an den Deutungen seiner Arbeit niemals zu beteiligen und sagte stattdessen in seinen seltenen Interviews (etwa anlässlich der Veröffentlichung von „Stalker“) Sätze wie: „Mir ist es wichtig, in diesem Film das spezifisch Menschliche, Unzersetzliche festzumachen, das sich in der Seele jedes Menschen offenbart und seinen Wert ausmacht!“
Das weist ihn in der Tat als visionären Medienbürger aus. In den sozialen Netzwerken hätten angesichts derartigen Quarks zahllose Emoji-Herzchen sogleich höher geschlagen.

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