Hochgenuss aus Selbstachtung (1): Warum reines Hörvergnügen so eine ernste Sache ist

betr.: Sprechen am Mikrofon

Hörbücher werden nicht nach qualitativen Kriterien besetzt, sondern nach kommerziellen. Man wählt vorzugsweise beliebte Darsteller aus dem Fernsehen aus. Die Annahme, es müsse ja zu brauchbaren Ergebnissen führen, wenn Schauspieler mit dieser Arbeit betraut werden – Angehörige eines Gewerbes also, das dem literarischen Vortrag verwandt sei – ist längst widerlegt und der scheinbare Widerspruch gründlich erforscht und entzaubert.* Die so entstandenen Produkte umgeben uns also in großer Zahl, und wir müssen uns zu ihnen verhalten, wenn wir selbst am Mikrofon arbeiten.

Zu Beginn des Unterrichts wird man bei mir mit einer irritierenden Anweisung konfrontiert: bis wir aus dem Gröbsten raus sind – und das kann einige Monate dauern – verordne ich meinen Schülern eine Diät. Hinsichtlich der Menge mache ich Ihnen keine Vorschriften, rufe sie aber zu einer gehaltvollen Ernährung auf.
Da zu Anfang nicht nur Orientierung an den richtigen Vorbildern überaus wichtig ist, sondern auch die Vermeidung von falschen Vorbildern und ein Bruch mit lebenslangen Gewohnheiten und Vorurteilen, ist diese Umstellung unerlässlich.
Ich bitte die sich mir Anvertrauenden, einstweilen von den Heroen jener „guilty pleasure“-Produkte Abstand zu nehmen, die die Branche so gerne auf ihre Ab- und Zuhörer ausschüttet und die den Löwenanteil der Hörbuchproduktionen ausmachen: große Namen ohne einschlägige Qualifikation, die sich – und ich spreche hier ausdrücklich von der Hörbuch-Arbeit! – in zwei Kategorien teilen: die aufreizend Schlampigen, welche aus unterschiedlichen Gründen meinen, Respekt vor Ihrem Material nicht (mehr) nötig zu haben, und die Sorgfältigen, deren sicher gut gemeinter Eifer alles noch schlimmer macht.** Dazwischen wirken einige, deren Leistung man weder einen Vorwurf noch ein Kompliment machen kann. Ich bitte darum, alle diese Beispiele sofort wieder abzuschalten und im reichhaltigen Pool der Alternativen nach einer besseren zu suchen.

Natürlich versucht fast jeder, den ich so anweise, mich auf unernstes Terrain zu lotsen. Man spricht zu mir von „Geschmacksache“ (in fachlichem Zusammenhang existiert so etwas nicht) und fragt, warum denn abzuschalten sei, was doch Vergnügen bereite. Ganz einfach: das Vergnügen entsteht nicht durch Handwerk, Eignung und Talent, sondern durch Tricks und Ausweichmanöver, die sich nicht im Unterricht vermitteln lassen und hier auch keinen Platz haben dürfen: von anderswo mitgebrachte Prominenz, Äußerlichkeiten, ein Ruf in den Boulevardmedien, einen familiären oder biographischen Background (Kind eines berühmten Synchronsprechers), eine umjubelte Einzelleistung (Hauptrolle in einer Kinder-Hörspielserie der 80er Jahre …) oder vieles mehr.

Um ein Hörbuch fair beurteilen zu können, muss man ehrlich zu sich selber sein.
Die wichtigste Frage zuerst: höre ich eigentlich tatsächlich zu, was da gelesen wird, oder lasse ich die Aufnahme einfach laufen und erfreue mich an einem Sound, der eine Brücke in meine Kindheit schlägt?
Umgekehrt gefragt: irritiert mich irgendetwas an diesem Vortrag, was ich einer fremden Stimme nicht verzeihen oder außerhalb eines Franchise nicht dulden würde (etwa seltsame Pausen / Betonungen / Effekte, gar Versprecher)?
Und schließlich: Verliere ich den Faden, wenn ich mich nicht sehr konzentriere? Passiert das vielleicht sogar wieder und wieder, obwohl ich mich doch an der Aufnahme erfreuen möchte?
Was „im Hintergrund“ großzügig weiter laufen darf, muss einer sachlichen Konsumhaltung (ich finde Worte wie „streng“ ober „kritisch“ hier unangebracht, da es ums Wesentliche geht) noch längst nicht genügen.

Natürlich gebe ich auf Wunsch gerne Hörbuchempfehlungen. Dabei geschieht zuweilen Wunderliches!

_________________
* Siehe https://blog.montyarnold.com/2020/07/05/sprechen-am-mikrofon-on-und-off-5/ und viele andere Beiträge, etwa in der Serie IXEN FÜR ANFÄNGER.
** Um meiner selbstauferlegten Rezensentenpflicht zu genügen, ohne unnötig liebende Gefühle zu verletzen, werden die Beispiele für die jeweilige Gattung zu einem späteren Zeitpunkt nachgereicht.

Dieser Beitrag wurde unter Buchauszug, Hörbuch, Hörfunk, Literatur, Mikrofonarbeit abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert