Der innere Algorithmus

betr.: Sprechen am Mikrofon

Dieser Tage bat mich eine Schülerin, ihr bei der Vorbereitung eines Vorstellungsgesprächs zu helfen. Ein Hamburger Studio hatte ihr zur Vorbereitung einige Sprachproben-Texte geschickt, in Kürze wird sie dort vorbeigehen, um einige davon einzusprechen.
Da ich hin und wieder um solche Unterstützung gebeten werde, kenne ich die kleine Textsammlung. Sie wird selten überarbeitet. Ihr Alter erkennt man auch daran, dass kaum Texte weiblich konnotiert sind. Inzwischen ist man da gewiss weiter, früher mussten sich die Interessentinnen neben den wenigen explizit weiblichen Passagen aus dem Unisex-Graubereich des Skriptes bedienen.
In diese Sparte fiel nun ein kleiner Monolog zum Thema „Trennungsgespräch“. Meine Schülerin bot als erstes eine sehr aggressive und laute Variante an. Selbst wenn wir den Text so hätten interpretieren wollen, hätte sich dieser eher bühnenhafte Ansatz am Mikrofon nicht umsetzen lassen. Außerdem ist selbst dieser kurze Text (eine knappe halbe Seite) zu lang, um ihn durchgehend zu brüllen.
Der nächste Versuch fiel dann schnippisch aus. Erwartbar schnippisch, möchte ich sagen, denn sämtliche Kolleginnen, die ich bisher eine solche Art von Text anbieten hörte (in der Praxis, auf ihren Demos, im Workshop oder im Unterricht) haben es genau so gemacht: sie spontan spontan auf den Typ der „Zicke“ zurück, der ihnen in jedem anderen Kontext als klischeehafte Verkürzung unangenehm aufgefallen wäre. (Ähnlich einseitig verhalten sich männliche Kollegen, wenn man sie bittet, sich älter zu machen. Dann kommt fast immer etwas Kehliges wie „Herr Doktor Klöbner“ bzw. „Opa Hoppenstedt“.)
Dieser Ansatz legitim, hat aber drei Nachteile, weswegen ich der jungen Kollegin dringend davon abgeraten habe.

Erstens ist er handwerklich so anspruchslos, dass sich damit rein gar nichts beweisen oder präsentieren lässt. Er funktioniert vermutlich, hinterlässt aber absolut keinen Eindruck! Vermutlich würde sich die Kollegin auf der Aufnahme selbst nicht von ihren Mitbewerberinnen unterscheiden können, wenn man ihr mehrere Aufnahmen vorspielte.

Das führt uns zu Zweitens: Da diese Texte schon länger im Gebrauch sind, hat sie jeder Tonmeister im Haus schon unzählige Male genau so gehört. Er hat den Auftritt schon wieder vergessen, noch ehe er in die Datenbank eingepflegt ist. Die Chance, einen ersten Eindruck irgendwelcher Art zu hinterlassen, wäre verschenkt.

Drittens: Das Bessere ist der Feind des Guten. Das wäre in diesem Fall: eine komödiantische Interpretation. Ich persönlich fände ein wackeres Gekränktsein sehr lustig, aber da gibt es noch andere Möglichkeiten. Ich bin sicher, jede Kollegin, die einen Augenblick in sich geht, wird eine noch hübschere Idee haben.

Ein Take wie „Das Trennungsgespräch“ eignet sich übrigens sehr gut, um seine Dialektfähigkeiten zu dokumentieren. Wenn die reguläre Aufnahme im Kasten ist (bitte erst dann), bietet man eine zweite Fassung in der regionalen Muttersprache an.
Machen wir uns nichts vor: Dialekte sind in der Regel sehr komisch, besonders wenn es um ernste Sachen geht.
Außerdem interessiert sich jede seriöse Datenbank auch für Spezial-Superkräfte. Man wird eben nur nicht immer danach gefragt.

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