Let our affair be a gay thing (1)

betr.: Das Musical als schwule Kunstform für alle

Unter ihrer unverändert buntschillernden Oberfläche hat sich die Gattung Musical in den etwa 40 Jahren seit ihrer Wiederauferstehung als volkstümliche Kunstform tiefgreifend gewandelt.
Der Kulturjournalist Nick-Martin Sternitzke, der sich im SWR regelmäßig mit dem Genre beschäftigt, lieferte in seinem Feature „Something Wonderful“ über die Broadway-Klassiker Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II kürzlich ein gesellschaftspolitisches Update.
Aufhänger war ein Song, der sich in den letzten Jahren zum populärsten Titel des klassischen Broadway-Teams Rodgers & Hammerstein gemausert hat. „You’ll Never Walk Alone“ erklang ursprünglich im Finale des Musikdramas „Carousel“ (1945) und hat viel später mehrfach Karriere gemacht, zunächst im Fußballstadion. Sternitzke: „Ausgerechnet die Hymne der heterosexuellen Fußball-Sphäre sollte zum akustischen Signet weltweiter Anti-AIDS-Kampagnen werden und gemeinschaftsstiftend für queere Menschen.“ Das Rad der kulturellen Wechselwirkungen drehte sich noch weiter: „In den letzten Jahren gab es sogar einige queere Interpretationen von Rodgers-und-Hammerstein-Stücken. Plot, Dialoge und Musik blieben unverändert, nur hat man eben eine weibliche Figur mit einem männlichen Darsteller besetzt: Aus Ado Annie in ‚Oklahoma!‘ wurde Andy Nun, der sich in Will verliebte. – So wie das Ado Annie eben auch passiert wäre.“ Kevin Clarke fügte in der Sendung hinzu: „Diese ganzen LGBTQ-Versionen von „Oklahoma!‘ sind, glaube ich, in Amerika nur möglich, weil eben dieser kommerzielle Druck, sich zu erneuern, so groß ist, dass die Rodgers-&-Hammerstein-Verwaltungsgesellschaft erkannt hat: Wenn in allen anderen Broadway-Musicals jetzt Schwule, Lesben, Trans-Charaktere, queere Personen vorkommen, wenn das Thema so groß behandelt wird, dann können wir hier nicht auf so einer altmodischen Version beharren […] Und das ist etwas, was ich sehr schön finde, weil es das auch lebendig hält. Andererseits ist es etwas, was in Deutschland auf dem Musical-Markt überhaupt nicht wahrgenommen wird.“

Dieser deutsche Rückstand ist verwunderlich. Wie in den angelsächsischen Ländern, ist bei uns das männliche Musical-Personal auf und hinter der Bühne zu einem erheblichen Teil homosexuell. Und auch im Publikum sitzen zwischen all den Normalo-Familien unzählige „Schwule und ihre besten Freundinnen“ – wiederum auf beiden Seiten des Atlantiks bzw. des Ärmelkanals.
Die klassischen Broadway-Shows waren keineswegs subversiv, ebensowenig wurden homosexuelle Aspekte offen, missionarisch oder gar sektiererisch eingebracht. Ein so teures Vergnügen wie eine Musical-Produktion konnte sich gar nicht leisten, nur für eine Blase (ehrlicher gesagt: eine Randgruppe) zu produzieren, sie musste Entertainment für alle bieten. (Erfreulicherweise hat es immer wieder Innovationen und Experimente gegeben. Der inhaltliche – wenn auch unpolitische – Wagemut, der in den 70er und 80er Jahren von Stephen Sondheim gepflegt wurde, geschah bereits aus einer Nische heraus.)
Die Verhältnisse hielten die häufig schwulen Schöpfer der jungen Kunstform aber nicht davon ab, ihre Befindlichkeiten auf die handelnden Figuren zu übertragen. Es glückte das ewige Wunder der künstlerischen Sublimation: der besondere (homosexuelle) Blickwinkel beförderte etwas ganz Allgemeingültiges. Und er bewahrte diese ganz besonders kommerzielle Kulturgattung jahrzehntelang davor, ins Beliebige und Banale abzurutschen.
Capricen und Subtexte wurden in der ersten Musical-Hochphase im 20. Jahrhundert ganz unaufdringlich platziert oder zum Gegenstand einer Schlüsselszene gemacht (das sind jene wichtigen Momente, die man aufgrund ihrer mitunter beiläufigen Verabreichung auch übersehen kann – um den Preis, die eigentliche Pointe zu verpassen).*
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* Siehe https://blog.montyarnold.com/2024/06/09/25472/

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