Wahrheit und Blödsinn über das Stilmittel der Schlüsselszene

Die Schlüsselszene markiert den Wendepunkt in einer Erzählung / Inszenierung und lüftet zumeist ein Geheimnis, das uns einen wichtigen Charakter der Handlung künftig mit anderen Augen sehen lässt. In Musicals geschieht so etwas gern im Rahmen eines Songs – das berühmteste Beispiel dürfte „Send In The Clowns“ sein, der in Stephen Sondheims „A Little Night Music“ erklingt.
Es kommt vor, dass dieser klangvolle, schmückend anmutende Begriff missverstanden wird und man seinen Gegenstand für etwas hält, ohne das kein solide konstruierter Stoff auskommt. Doch eine Schlüsselszene ist nicht zwingend notwendig; ganz im Gegenteil werden die meisten Plots geradlinig erzählt oder steuern auf eine große Überraschung bzw. Enthüllung am Ende zu – das ist dann keine Schlüsselszene mehr, sondern schlicht die Auflösung (des Rätsels).
William K. Everson wies auf eine skurrile Besonderheit hin: oftmals sind Schlüsselszenen abgeschlossene, kleine Einheiten, die man sogar entfernen könnte, „ohne dass äußerlich ein Bruch entsteht. (…) die Kontinuität [ist] nicht gefährdet – obwohl der Gesamtwirkung des Films ein Todesstoß versetzt wird“. Ein schönes Beispiel hierfür ist die Begegnung in der Bibliothek in „Die Insel des Dr. Moreau“ (1977).*

Von einigen Autoren wird das dramaturgische Mittel der Schlüsselszene auch für ein beliebig hoch dosierbares Würzmittel gehalten. Der Schlagertexter Michael Kunze erklärte in seinen Vorträgen über seine Verdienste um das Musiktheater (er sieht sich als Erfinder einer Genre-Schöpfung namens „DramaMusical“), es dürfe streng genommen überhaupt nur Schlüsselszenen geben, denn wenn sich in einer Szene keine Wendung um 180° ereigne, sei sie überhaupt sinnlos.
Das Ergebnis solchen Vorgehens mag man sich gar nicht vorstellen.

Das schönste Gegenbeispiel zu diesem illiterarischen Gigantomanismus ist die Schlüsselszene des Melodrams „Romanze in moll“ (D 1943, Regie: Helmut Käutner). Sie ist so kurz und beiläufig, dass man sie um ein Haar verpasst. Ganz beiläufig kommt die Heldin Madeleine in einer friedvollen Alltagsstunde auf ein Paar zu sprechen, das im selben Hause lebt und nach einer Trennung wieder zusammen ist. Ihr Mann reagiert rigoros und hochmoralisch: nein er würde dieser Frau ihren Abweg niemals verzeihen und sie zum Teufel jagen. Das verrät Madeleine und uns, dass sie nicht darauf spekulieren darf, ihr Mann würde ihr die Affäre verzeihen, die sie gerade mit einem Musiker hat. Es dürfte nicht ratsam sein, sich mit ihm auszusprechen. Wir müssen das Schlimmste befürchten, was das Ende der Geschichte betrifft.
_____________
* Siehe https://blog.montyarnold.com/2024/06/12/die-insel-des-dr-moreau/

Dieser Beitrag wurde unter Film, Literatur, Medienkunde, Musicalgeschichte, Theater abgelegt und mit , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert