betr.: „Das Sommerbuch“ von Tove Jansson
„So weit bin ich noch nie gegangen“, sagte Sophia. „Und du?“
„Ich auch nicht“, antwortete ihre Großmutter.
Sie gingen bis auf die äußerste Spitze der Insel hinaus, wo der Fels sich in immer dunkler werdenden Terrassen senkte. Jede Stufe, die tiefer in die Dunkelheit hinabführte, war von hellgrünen Fransen aus Seegras gesäumt, die mit den Bewegungen des Wassers vor- und zurückwogten.
Es freut mich, über das Fließtext-Buch einer finnischen Autorin gestolpert zu sein, die ich bisher lediglich als einen der bedeutendsten europäischen Comic-Klassiker kannte: Tove Jansson (1914-2001). Sie schrieb „Das Sommerbuch“ 1972, kurz nachdem ihre Mutter gestorben war, um ihre Trauer zu verarbeiten (wie es in solchen Fällen immer so schön heißt). Tove Jansson war vor allem für ihre Comics um die freundlichen, nilpferdähnlichen Mumin-Trolle bekannt – die ich wiederum nur aus der Feder ihres Bruders Lars kannte, der sie als Autor und Zeichner viele Jahre lang betreut hat.
„Einmal hab ich ein richtiges Aas gefunden, ein Schwein. Wir haben eine Woche lang die Knochen abgekocht. Es roch ganz schrecklich. Dein Vater wollte das Skelett haben, für die Schule. Für Zoologie, verstehst du?“
„Nein“, antwortete Sophia misstrauisch. „Was? Welche Schule?“
„Als dein Vater klein war, …“
„Er ist groß!“ sagte das Kind und fing an, Sand zwischen den Zehen herauszupulen.
Großmutter und Enkelin zogen sich in ihr jeweils eigenes Schweigen zurück.
Mir war nicht bekannt, dass die Autorin zehn Bücher für Erwachsene geschrieben hat und dass diese in Skandinavien als moderner Klassiker gelten. „Das Sommerbuch“ ist eines davon. Es geht darin um die Liebe zwischen einer Großmutter und ihrer sechsjährigen Enkelin. Die episodenhafte Handlung erstreckt sich über die titelgebenden Monate. Wie gesagt: „Das Sommerbuch“ ist dennoch kein Kinderbuch, aber die Grenze zwischen den Zielgruppen löst sich angenehm auf. Zuletzt erlebte ich das im westdeutschen Kinderfernsehen, das zum für mich biografisch idealen Zeitpunkt durch seine Blütezeit ging. Wie all die „lieben Jungen und Mädchen“ fühlte ich mich von diesem Programm spielerisch für voll genommen – genau wie es die Oma bei Jansson mit ihrer Enkelin tut.
Die Sonne ging auf, einen Augenblick lang glühte der Nebel, dann war er einfach verschwunden. Auf einem großen Stein draußen im Wasser lag eine Eisente. Sie war nass und tot.
„Woran ist sie gestorben?“ rief Sophia zornig.
„An unglücklicher Liebe“, erklärte ihre Großmutter. „Es war ein Enterich, und der hat seinem Gaggelhuhn die ganze Nacht etwas vorgesungen und vorgegaggelt, und dann ist ein anderer gekommen und hat sie ihm weggenommen. Und da hat er den Kopf ins Wasser gesteckt und ist davongetrieben.“
„Das ist nicht wahr!“ schrie Sophia und begann zu weinen. „Eisenten können nicht ertrinken! Erzähl es richtig!“
Streit, Kritik, Meinungsverschiedenheiten – all das ist hier selbstverständlicher Teil einer familiären Verbindung, die mehr an eine Freundschaft erinnert als an den Dialog über einen derart großen Altersunterschied hinweg. Unnötig zu erwähnen, dass Tove Jansson in diesen kurzen Episoden auch über den Tod nachdenkt.
„Wann stirbst du?“ fragte das Kind.
Großmutter antwortete: „Bald. Das geht dich aber nichts an!“