Der Zufall hat mich zwei alte Bücher wieder aus dem Regal holen lassen, die zwei der größten phantastischen Erzähler des 20. Jahrhunderts repräsentieren: Roald Dahls erotischen Kurzgeschichtenband „Kuschelmuschel“ und den Ray–Bradbury-Roman „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ („Something Wicked This Way comes“).
Seit ich diese Autoren für mich entdeckte, sind über 40 Jahre vergangen, und das Wiedersehen verleitete mich nicht nur dazu, beide miteinander zu vergleichen, sondern auch mich selbst mit dem Leser von damals.
Ich habe die Dahl-Geschichte „Der letzte Akt“ wiedergelesen, deren sexuelle Aspekte mir seinerzeit noch nicht nachvollziehbar waren. Unabhängig davon hat mich Dahls fesselnde Art, Menschen miteinander reden zu lassen, auf die gleiche Weise gefangengenommen wie heute. (Die meisten der Stories aus seiner mittleren und für mich besten Schaffensphase kommen ohne Sexszenen aus.) Es geht um eine Mutter soeben flügge werdender Kinder, die vom Unfalltod ihres Ehemannes überrascht wird. Ed war nicht nur Annas große Liebe bis zuletzt, er war auch der einzige Mann, mit dem sie je geschlafen hat. Es kostet sie gewaltige Anstrengungen, ins Leben zurückzufinden und sich von Selbstmordversuchen abzuhalten. Als sie auf einer Geschäftsreise den Mann wiedertrifft, den sie in ihrer Jugend für Ed verließ, kommt es zu einem für den Autor typisch abgründigen Kammer-Thriller. An das Ende der Geschichte konnte ich mich noch erinnern. Vergessen hatte ich die Details der Unterhaltung von Anna und Conrad in einer Hotelbar in Dallas, unter der ein großer Subtext brodelt. Eine amüsante Passage daraus sei hier aus demselben herausgerissen:
„Hast du mal darüber nachgedacht, warum eine Zigarette weiterbrennt, wenn du sie in den Aschenbecher legst? Tabak brennt nicht von allein. Jeder Pfeifenraucher kann dir das bestätigen.“
„Na ja, vielleicht benutzen sie Chemikalien.“
„Eben, eben. Sie benutzen Salpeter.“
„Brennt denn Salpeter?“
„Selbstverständlich. Früher war es ein Hauptbestandteil des Schießpulvers. Auch von Zündschnüren. Es ist sehr geeignet für Zündschnüre. Die Zigarette, die du da rauchst, ist eine erstklassige, langsam verbrennende Zündschnur. Verstehst du?“
Meine Rezeption von Ray Bradbury ist – trotz des hinzutretenden Erotikfaktors bei Dahl – volatiler gewesen. Ich halte ihn nah wie vor für den Erfinder großartiger Plots, weiß aber inzwischen, dass er nicht der ideale Produzent von Verfilmungen seiner eigenen Arbeiten ist. Ich habe einige seiner Kurzgeschichten als grässliche Fehltritte erlebt, als Versuche, irgendwem (seiner Frau?) zu beweisen, dass er auch ganz liebe Texte schreiben kann („Die Laurel-und-Hardy-Liebesgeschichte“). Ich habe mich gewundert, wie wenig er aus seinen großartigen Ideen mitunter herausholte („Die Stadt, wo niemand ausstieg“). Stilistisch hat mich die Kargheit der großartigen frühen Parabel „Fahrenheit 451“ beim Wiederlesen verblüfft, und so empfand ich die hochmögende Verdrechselung seiner späteren Sprachbilder als Versuch, diesen von ihm selbst bemerkten Mangel mit der Flucht ins andere Extrem zu parieren. Das kann eine Fehleinschätzung sein, aber es steht Autoren nicht gut zu Gesicht, wenn sie ihre Leser auf solche Ideen bringen. Selbstverständlich bleibt Bradbury einer meiner bevorzugten Autoren. In seinem Klassiker „The Illustrated Man“ etwa gelingt es ihm, seinen Sprachrausch solide zu motivieren.
„Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ ist nun leider wieder ein Beispiel, in dem Monologe wie der folgende erklingen:
„Muss mich beeilen. Gewitter kommt bald. Wart nicht zu lange, Jim. Sonst – bums! Dann finden Sie dich, und die Münzen, das Taschenmesser und der andere Kram in deinen Taschen ist zu einem Klumpen zusammengeschmolzen, das Silber läuft dir die Hosenbeine runter. Und noch etwas: Wird ein Junge vom Blitz erschlagen, dann heb sein Augenlid hoch. Auf seiner Pupille kannst du die letzte Szene eingeprägt finden, die er erblickt hat, fein und winzig wie das Vaterunser auf einem Stecknadelkopf. Ein Foto, wie der Blitz herunterpfeift und deine Seele die glühende Treppe heraufholt! Beeil dich, mein Junge! Hol Hammer und Nägel, sonst bist du vor dem Morgengrauen tot.“
Aber ich werde noch ein wenig weiterlesen, wenn auch langsamer als ich es bei Dahl getan habe. Das hat auch mit der uralten Widmung zu tun, die vorn im Buch steht. Sie ist nicht an mich gerichtet (es ist ein Second-Hand-Buch), aber wirklich süß: „Lieber Yorck, das Leben ist ein Abenteuer mit unverwüstlich erscheinenden Schattenseiten. Es gibt eine Möglichkeit, sich ihnen erfolgreich entgegenzustellen … nach der Lektüre dieses Buches wirst du wissen, wie sie aussieht …“
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