Der Tunnelblick in der Kunst

Eine Eigenart, die im wirklichen Leben unbedingt von Nachteil ist, macht der Kulturjournalist Kai Luehrs-Kaiser in der Kunst als eine Tugend aus: den Tunnelblick. In den unterschiedlichsten künstlerischen Disziplinen haben es einige darin sogar zu echter Meisterschaft gebracht: „Durch ein sehr enges Zielfernrohr bekommen sie nur einen sehr schmalen Realitätsausschnitt in den Blick bekommen, können diesen jedoch genauer beschreiben als jeder andere. Mitunter haben sie diesen Realitätsausschnitt sogar selbst definiert und in die Welt gesetzt.
Spontan fallen mir fast nur tote Künstler als Beispiele ein. Die Romane von Otto Flake haben mir meistenteils eben deswegen so großes Vergnügen gemacht, weil sie immer denselben, in diesem  Fall patriarchalisch altmodischen Blick  eines  Schwerenöters von Welt werfen. Es sind alles kleine Casanova-Wiedergänger zwischen Weimarer Republik und Adenauerzeit. Im Theater und im Film derselben Zeit war Curt Goetz als „Revolutionär im Frack“ ein weiteres Beispiel eines altmodischen Meisters des Tunnelblicks. Bei ihm sind es immer dieselben wiederum patriarchalischen Komödien eines Mannes, der durch Humor der eigenen Depression Herr zu werden versuchte. Und weil sein Humor der Melancholie abgerungen war, sei es auch so heilsam ihm zu folgen, wie es seine Frau Valérie von Martens so rührend beschrieben hat. Es sind dies keine Künstler der ersten Garnitur, aber in der Fähigkeit, durch einen beschränkten und eben dadurch konzentrierten Blick eine  Meisterschaft auszubilden und in der Enge die eigene Unendlichkeit zu finden, sind sie erstaunlich.
Die sogenannten „Alten Meister“ (also die Maler des 14. – 17. Jahrhunderts) waren in diesem Sinne alle Meister des Tunnelblicks. Einige der größten Schriftsteller – zum Beispiel Franz Kafka, Samuel Beckett oder Jane Austen – waren in diesem Sinne ganz eindeutig Tunnelblick-Virtuosen. Die Musik hat für Tunnelblickkünstler immer das reichlichste Betätigungsfeld abgegeben. Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler oder Hans Knappertsbusch, aber auch Pianisten wie Walter Gieseking, Vladimir Horowitz oder Glenn Gould hatten sämtlich eine so enge, so spezifische Ästhetik, dass sie damit nicht einmal in ein allen Repertoires ankommen konnten. Wo sie aber Fuß fassten, da ergab sich ihre Originalität von selbst.“ 

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