Die wiedergefundene Textstelle: Der Golem wie er aus der Welt kam

Kaum hatte die deutsche Armee Prag besetzt, begann in gewissen Vierteln das Gerede, der berühmte Golem, Rabbi Loews wundersamer Homunkulus, müsse in die Sicherheit des Exils gebracht werden. Der Einmarsch der Nazis wurde begleitet von Gerüchten über Konfiszierung, Enteignung und Plünderung, insbesondere

von jüdischen Schöpfungen, Kunstwerken und heiligen Gegenständen. Die heimlichen Hüter fürchteten vor allem, dass der Golem verpackt und verfrachtet werden könne, um irgendein Institut oder eine Privatsammlung in Berlin oder München zu schmücken. Schon hatten zwei freundliche, argusäugige junge Deutsche mit Notizbüchern fast zwei volle Tage damit verbracht, in der Altneusynagoge herumzuschnüffeln, in deren Traufe sich der Legende nach der lange schlummernde Held des Ghettos befand. Die beiden jungen Deutschen hatten angegeben, lediglich interessierte Studenten ohne offizielle Verbindungen zum Reichsprotektorat zu sein, aber das wurde angezweifelt. Gerüchten zufolge waren gewisse hochrangige Parteimitglieder in Berlin eifrige Schüler der Theosophie und des so genannten Okkulten. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis der Golem in seinem gewaltigen Kiefernsarg in seinem traumlosen Schlaf entdeckt und beschlagnahmt werden würde.
Im Kreise seiner Hüter bestand ein gewisses Maß an Skepsis gegenüber dem Plan, den Golem ins Ausland zu schaffen, selbst wenn es zu seinem Schutz geschah. Manche gaben zu bedenken, dass er möglicherweise körperlich zerfalle, wenn er seinem angestammten Klima entzogen würde, da er ja ursprünglich aus dem Schlamm der Moldau geformt worden sei. Wer einen Hang zum Historischen hatte – und wie Historiker allerorten stolz auf seine nüchterne Betrachtungsweise war –, führte an, der Golem habe bereits viele Jahrhunderte Invasion, Elend, Krieg und Pogrom überlebt, ohne aufgegeben oder verschleppt worden zu sein, und riet von einer unbesonnenen Reaktion auf diese neuerliche, vorübergehende Krise im Leben der böhmischen Juden ab. Es waren sogar einige unter ihnen, die, in die Enge getrieben, zugaben, dass sie den Golem nicht wegschicken wollten, weil sie in ihrem Herzen die kindische Hoffnung bewahrt hatten, der große Feind der Judenhasser und Blutsverleumder möge eines Tages, im Moment der größten Not, wiederbelebt werden, um erneut in den Kampf zu ziehen. Schlussendlich jedoch fiel das Votum zugunsten einer Umbettung des Golems an einen sicheren Ort, vorzugsweise in ein neutrales Land, das weit genug entfernt und nicht völlig judenfrei war.

An dieser Stelle nannte ein Mitglied des geheimen Zirkels mit Verbindungen zum Prager Zauberkünstlermilieu den Namen von Bernard Kornblum, das sei ein Mann, dem man die Rettung des Golems anvertrauen könne. Bernard Kornblum war ein »Ausbrecher«, ein Zauberkünstler, der sich auf Kunststücke mit Zwangsjacke und Handschellen spezialisiert hatte – die Art von Vorstellung, mit der Harry Houdini berühmt geworden war. Er hatte sich vor kurzem von der Bühne zurückgezogen (er war mindestens siebzig), um sich in Prag, seiner selbstgewählten Heimat, niederzulassen und auf das Unentrinnbare zu warten. Doch ursprünglich, sagte sein Fürsprecher, stamme er aus Vilnius, jener heiligen Stadt des jüdischen Europas, die, obwohl bekannt für ihren Realitätssinn, im Ruf stand, Menschen zu beherbergen, die Golems herzlich und wohlwollend gegenüberstanden. Außerdem war Litauen offiziell neutral, und welche Ambitionen Hitler diesbezüglich auch immer gehabt haben mochte, so hatte ihnen Deutschland in einem Geheimprotokoll zum Molotow-Ribbentrop-Pakt feierlich entsagt. Also wurde Kornblum herbeizitiert, von seinem angestammten Platz am Pokertisch im Glücksspielzimmer des Hofzinserclubs zu dem geheimen Ort geholt, wo sich der Zirkel traf – bei »Grabmale Faleder«, in einem Schuppen hinter der Grabsteinausstellung. Kornblum wurde die Natur des Auftrags erklärt: Der Golem müsse aus seinem Versteck geschafft, für den Transport entsprechend präpariert und dann außer Landes zu gleich gesinnten Kontaktleuten nach Vilnius befördert werden, ohne dass irgendjemand davon etwas merkte. Notwendige offizielle Dokumente–Frachtbrief, Zollbescheinigung – würden von einflussreichen Mitgliedern des Zirkels oder von deren hoch gestellten Freunden beigebracht werden.
Bernard Kornblum erklärte sich auf der Stelle bereit, den Auftrag anzunehmen. Obwohl er wie viele Magier von Beruf aus ein Ungläubiger war, der nur die Natur als große Zauberkünstlerin verehrte, war Kornblum gleichzeitig ein pflichtbewusster Jude.


Nicht zufällig macht Michael Chabon in seinem der Comickunst gewidmeten Roman „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“ den Golem zu einem Gegenstand des Interesses. Die Helden sind zwei junge jüdische Künstler, die Mitte des 20. Jahrhunderts dem Comic in New York zu seinem Siegeszug verhelfen. Siehe auch https://blog.montyarnold.com/2025/08/10/superhelden-uebermenschliche-kraefte-und-einfache-loesungen/

Dieser Beitrag wurde unter Comic, Literatur abgelegt und mit , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert