Die Grenze ist ein Fremdwort, ein Grenzwort aus dem Mittelalter. Ein Wort von jenseits der Grenze. Tschechisch heißt die Grenze hranice, polnisch granica. Etymologisch bedeutet es Kamm und oder sichtbare, markierte Trennlinie. Indirekt weist es auf eine ganz andere eher unsichtbare Grenze zwischen der deutschsprachigen und der slawischen Welt hin, auf den sprachlichen Unterschied. Wer ein deutschsprachiger Mensch, ein Němec ist, der wird als ein stummer Mensch eingestuft, der der heimischen Sprache nicht mächtig ist.
Grenzen haben einen denkbar schlechten Ruf. Grenzen schränken ein, schließen aus, sind ein Hindernis. Die globalen Migrationsbewegungen und die menschenrechtswidrigen Abwehrmaßnehmen haben das negative Bild von Grenzen als Inbegriff von Unfreiheit kräftig verstärkt. Demgegenüber wird die grenzenlose Welt zu einer Sehnsuchtsformel. Über den Wolken muss die Freiheit grenzenlos sein.
Eine solche Sicht erweist sich als vorschnell. Nicht nur bescheren uns einvernehmlich gesetzte Grenzen Schutz und Sicherheit, die nur verachten kann, wer sich sicher fühlt. Jede Grenzüberschreitung setzt paradoxerweise die Existenz von oft unsichtbaren Grenzen voraus. Ob wir sie einhalten oder sie zu überschreiten vermögen, hängt von den jeweiligen Gegebenheiten ab.
Das deutsche Wort teilen, das sich auf das verwirrend vielfältige Phänomen des Liminalen, also Grenzhaften, anwenden lässt, beschreibt die Zwiespältigkeit, die mit Grenzen verbunden ist. Teilen bedeutet, etwas zu trennen und zugleich zu teilen. Grenzen sind Strukturelemente unserer Existenz, die stets eine soziale ist. Grenzen sind unverzichtbare Strukturbildungen, die unsere Begegnungen regulieren. In der Welt des Kindergartens ebenso wie in der großen Weltpolitik.
Wolfgang Müller-Funk: „Grenzen – Ein Versuch über den Menschen“, Matthes & Seitz