Mutters Klavier

Ein Aha-Moment, eine Erkenntnis (festgehalten in einem Dialogsatz, einer Liedzeile, einer Pointe), die den Blick auf alles Folgende verändert – Schlüsselszenen machen Spaß, wenn sie in der Kunst geschehen.
Mein Lieblingsbeispiel ist der Song „Gee, Officer Krupke“. Er gibt den renitenten Jugendlichen der „West Side Story“ eine unerwartete Tiefe, obwohl hier eine Menge Blödsinn gemacht wird. Besonders komisch ist diese Nummer in der Studioreportage, in der wir sehen, wie Bernstein den Song selbst dirigiert!
Im Leben sind Schlüsselszenen zumeist demütigend und allenfalls in der Rückschau erfrischend. Auch wenn man – wie bei „Officer Krupke“ – nur zuschaut.
Hilflos zuschaut.

Mein ultimativer Schlüsselmoment – man könnte sagen: das Ende der Kindheit – ereignete sich im Partykeller meines Elternhauses (also dem Raum, in dem z.B. Dia-Abende abgehalten wurden).
Meine Mutter, eine begabte Musikerin, hatte sich immer ein schönes Klavier gewünscht. Eines Tages bekam sie tatsächlich eines geschenkt, ein wunderschönes altes Instrument aus hellem Naturholz.
Nun war ja bei dieser Anschaffung schon so viel Geld gespart worden, da wollten sich meine Eltern auch vom Klavierstimmer nicht die Bilanz verderben lassen. Es kam ein Herr ins Haus, der nicht gerade wie ein Spezialist aussah, eher wie ein leicht alkoholisierter Klempner aus einem Slapstick-Film.
Er saß noch auf seinem Stühlchen, als ein kurzer aber höllischer Donner losbrach. Die Gussplatte war gerissen und das Klavier unwiederbringlich ruiniert.
Ich muss gestehen, ich fand diese Situation ungeheuer fesselnd.
Mein Vater – ein Polizist – unternahm aber angesichts dessen absolut nichts. Der Übeltäter spazierte so fröhlich aus unserer Wohnung wie er hereingekommen war.
Ich wartete noch einige Zeit auf das Nachspiel dieser Angelegenheit, aber es gab keins.
Für meine Eltern war die an ihrem Eigentum (und damit an ihnen) verübte Missetat weitaus weniger unangenehm, als der Gedanke, einen Konflikt austragen zu müssen.

Ich begriff, dass ich zu dieser Art und Weise, mit persönlich erlittenem Unrecht umzugehen, jahrelang erzogen worden war. Das war eine Einsicht, die mich in meinem Bestreben, mit mir selbst auszukommen, um Jahre zurückwarf.

Ich habe schon häufiger gehört und gelesen, es sei ein schockierender Moment, ein Wendepunkt im Leben eines Kindes, wenn es sich der eigenen Sterblichkeit bewusst werde. Mich kann diese Enthüllung nicht sehr beeindruckt haben, denn ich erinnere mich nicht an sie. War ich mir meiner Endlichkeit vielleicht schon vorher bewusst? Hätte mir mein Ende vielleicht so passen können? Ich weiß es nicht. Unvergessen wird mir jedoch der Tag bleiben, den der Schriftsteller John Steinbeck in einem seiner Romane so beschrieben hat: „Wenn ein Kind anfängt, die Erwachsenen zu durchschauen, wird es von trostlosem Entsetzen gepackt und seine Welt fällt in Trümmer. Die Götter sind vom Thron gestürzt, der sichere Boden ist verschwunden. Nie wird die Welt des Kindes wieder heil und ganz.“

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