Going West! (2) – Ein Haus im Grauen

betr.: Ausstellung „Going West!“ im Wilhelm Busch Museum Hannover* / Fortsetzung vom 7.1.

In seinem Ausstellungskatalog „Going West!“ schildert Alexander Braun mit einer Fülle von Bildmaterial die Darstellung des amerikanischen Gründungsmythos im Comic. Dem vorangestellt ist ein Kapitel über die tatsächlichen Vorgänge im Wilden Westen. Heute werden die historischen Hintergründe des Filmklassikers „Spiel mir das Lied vom Tod“ ausgeleuchtet.
Dieser Text erscheint hier als Serie mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Das große Nichts (2)
von Alexander Braun

Aber warum wurden dann so viele Siedler in ihr Unglück gestürzt? Warum musste der Westen auf Gedeih und Verderb besiedelt werden? Die naheliegendsten Gründe sind schnell benannt: Die Metropolen im Osten platzten aus allen Nähten. Bis zu 2.000 neue Amerikaner strömten pro Tag (!) von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts im Hafen von New York an Land. Alle diese Flüchtlinge aus prekären europäischen Lebensbedingungen suchten Arbeit, Wohnung und Nahrung. Insbesondere die Nahrungsmittelversorgung war allein mit den Agrarflächen und der Viehzucht im Hinterland des Ostens nicht länger zu bewältigen.

Behausungen 1+2Die Bauweise der sogenannten Homesteads hing stark von der Herkunft der Siedler ab. Von Blockhütten bis zu Häusern aus Grasnarben war alles vertreten. (Frühes 20. Jahrhundert) ***

Eine Ansiedlung im Westen löste also gleich zwei Probleme: die Emigranten verteilten sich weiter im Land und die Urbarmachung eigentlich unbewohnbarer Landstrich würde mittelfristig auch die Lebensmittelproduktion erhöhen. Dazu gesellten sich knallharte kapitalistische Interessen. Die Investition des transkontinentalen Eisenbahnbaus, der 1869 mit dem Zusammenschluss der beiden Eisenbahngesellschaften Central Pacific Railroad und Union Pacific Railroad seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte, würde nur dann lukrativ werden, wenn sich die Zahl der Reisenden erhöhte. Die überschaubaren Fahrten von Ostküstenbewohnern, die beruflich oder privat in San Francisco oder Los Angeles zu tun hatten oder dem Ruf des Goldes in Alaska folgen wollten, waren zu wenig für ein wirkliches »big business«. Die gesamte Strecke zwischen Atlantik und Pazifik musste Reiseanreize bieten, z.B. durch Familienmitglieder, die
dort wohnten und besucht werden wollten, Handelsvertreter, die hier ihre Ware absetzen könnten etc. – zumal Städte und Infrastruktur entlang der Bahntrassen diese maßgeblich sichern halfen. Schneisen der Zivilisation von Ost nach West versprachen Lebensraum und damit Absatzmärkte und Profit. Wieviele der abertausend Neuankömmlinge auf dem Weg zu diesem Ziel auf der Strecke blieben, interessierte die Dollar-Nomenklatura des Ostens wenig: Ein Blick aus dem Fenster Richtung Ellis Island genügte, um dieses »Lumpenproletariat« der alten Welt – die häufig nicht einmal der englischen Sprache mächtig waren – nicht als Individuen, sondern als ein Heer von Arbeitsameisen zu betrachten, die willfährig dem großen Ziel dienen durften, ein geschlossen besiedeltes Transkontinental-Amerika zu schaffen.

Unabhängig von der moralischen Einschätzung, ob dieses Unterfangen legitim war, geriet vor allen Dingen seine Durchführung desaströs. Schon Eugene Virgil Smalley plädierte 1893 für die Wiederherstellung alter, d.h. dörflicher Siedlungsstrukturen, wie die, aus denen die Einwanderer eigentlich geflohen waren. Geometrische Parzellen abzustecken und einzelne Siedler(familien) darauf ein winziges »homestead« bauen zu lassen, das weit vom nächsten Haus der nächsten Parzelle entfernt war, wo die Siedler dort unter Umständen eine völlig andere Sprache sprachen und unterschiedlicher kultureller Herkunft waren, ließ die Selbstmordquote und die Fälle von Geisteskrankheit im Angesicht einer nicht zu bezwingenden Natur und verzweifelter Isolation in die Höhe schnellen. Schon der erste Satz von Smalleys Aufsatz stellt ein vernichtendes Urteil über die amerikanische Politik dar: »In keinem anderen zivilisierten Land haben die Landwirte ihr Leben so schlecht an die Bedingungen der Natur angepasst, wie die Menschen unserer großen nordwestlichen Prärie.«

Die wenigen Fotografen, die sich aufmachten, diese Lebensrealität auf Glasplatten zu bannen, wie etwas Solomon D. Butcher (1856–1927), der in über 3.000 Fotografien das Leben auf den Plains von Nebraska dokumentierte, oder die unvergleichliche Evelyn Cameron (1868–1928), die dem Alltagsleben ihrer Nachbarn in Montana ein fotografisches Gesicht gab (siehe Abbildung unten), zeigen Menschen, die sich zwar angesichts der unerwarteten Ehre, Anlass einer Belichtung zu sein, in Positur stellen, andererseits aber auch wie verängstigte Tiere wirken, die für einen Moment aus der Lethargie ihres Überlebenskampfes gerissen werden.

Behausung 3
Die Fotografin Evelyn Cameron stammte aus der englischen Oberschicht, bis sie ihrem Mann nach Montana folgte, um dort Ponys für den Polosport zu züchten. Als sich das Projekt als unrentabel herausstellte, begann sie in den späten 1890er-Jahren damit, die Lebensbedingungen ihrer Nachbarn zu dokumentieren. Tausende von belichteten Fotoplatten und Tagebüchern haben sich erhalten und stellen heute eine der wichtigsten Dokumentationen des Lebens in der Prärie am Ende des 19. Jahrhunderts dar.***

FORTSETZUNG FOLGT

_________________________

* Die Ausstellung läuft noch bis zum 21. Februar und wandert dann weiter ins Saarländische Wagdassen
** Das Buch ist nicht regulär im Handel erhältlich. Man kann es am jeweiligen Ausstellungsort für den Preis von 49 Euro erwerben (432 Seiten mit Schutzumschlag) oder direkt bestellen bei: mail@german-academy-of-comic-art.org (zzgl. 5 Euro Versandkostenanteil / wird als Paket verschickt).
*** Abbildungen aus dem besprochenen Band

Dieser Beitrag wurde unter Buchauszug, Film, Gesellschaft, Medienphilosophie, Popkultur abgelegt und mit , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert