Die wiedergefundene Textstelle: „Das Drei-Monde-Irrenhaus“ (1)

betr.: 90. Geburtstag von Richard Matheson

Das Drei-Monde-Irrenhaus
Eine Kurzgeschichte von Richard Matheson

I.

Das silbrig glänzende Stahlschiff flog durch die Schleier zerrissener Wolken in der Atmosphäre von Station Vier. Bremsraketen brüllten rotglühend wie ein Wirbelsturm gegen die Schwerkraft an.
Die Luft wurde dicker, das glitzernde Schiff langsamer, bis es wie an einem Fallschirm auf den festen Boden zuglitt.
Das Sonnenlicht besprenkelte seine Flächen mit spiegelndem Licht; einen Augenblick lang schienen die blauen Wasser des Ozeans es verschlingen zu wollen. Dann beschrieb es einen weiten Bogen und hielt auf das rötlichgrüne Land zu.
In der winzigen Kabine lagen drei Männer festgeschnallt und warteten auf den Aufprall bei der Landung. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Hände blutlos. Dicke Muskelstränge spannten sich gegen die Schwerkraft.
Das Schiff zitterte, als es sich mit einem Ruck auf die Erde setzte. Einen Augenblick später stand es still – nachdem es mit Erfolg eine Strecke von fast zweitausend Milliarden von Kilometern durch luftleere Nacht geflogen war.
Vierhundert Meter entfernt lagen das Lagerhaus, das Dorf und das Wohnhaus.

„Kritische Lage“, hieß es im offiziellen Bericht, der geheim sein sollte. Aber David Lindell kannte ihn, und alle anderen Wentner-Männer ebenso. Station Vier, das „Drei-Monde-Irrenhaus“ – ein von allen besprochenes Gerücht, das wahrscheinlich mit einigen Vorbehalten aufzunehmen war.
Aber irgendetwas steckte Bestimmt dahinter. Auf allen anderen Stationen tat jeder zwei Jahre lang Dienst, ehe er abgelöst wurde – auf Station Vier nur sechs Monate. Das hatte etwas zu bedeuten, pflegten sie im Besprechungsraum auf der Erde zu sagen. Wentners Weltraum-Handelsgesellschaft nahm keine überflüssigen Rücksichten.
„Aber ich glaube, es hat keinen Zweck, sich schon vorher Kopfschmerzen darüber zu machen“, sagte er.
Er sagte es zu Martin, dem Kopiloten des Schiffes, als sie beide mühsam Lindells Gepäck über die breite Wiese zu den entfernten Gebäuden schleppten.
„Das ist das Beste“, versetzte Martin. „Mach dir nicht unnütz Kopfschmerzen.“
„Das sage ich immer“, meinte Lindell.

Nach einer Weile kamen sie an dem riesigen Lagerhaus vorbei. Die Schiebetüren standen halb offen, und Lindell sah den leeren Zementfußboden und das durch die Dachfenster fallende Sonnenlicht. Martin erklärte ihm, daß ein Frachtschiff vor ein paar Wochen alle Ladung abtransportiert habe. Lindell grunzte und verschob sein Gepäck, das ihn drückte.
„Wo sind die Arbeiter?“ fragte er.
Martin wies mit dem Kopf auf das etwa dreihundert Meter entfernt liegende Dorf. Aus den niedrigen, drei Seiten eines Rechtecks bildenden Häusern war kein Laut zu hören. Die Fenster blitzten im Sonnenlicht.
„Ich glaube, sie schlafen“, mutmaßte Martin. „Wenn sie nichts zu tun haben, schlafen sie viel. Sie werden sie morgen sehen, wenn das Verladen anfängt.“
„Haben sie ihre Familie bei sich?“ fragte Lindell.
„Nein.“
„Ich dachte, das gehört zur Politik der Gesellschaft.“
„Nicht hier. Die Gnees pflegen kein großes Familienleben. Zu wenig Männer und alle ziemlich dumm.“
„Großartig“, sagte Lindell. „Wunderbar!“ Er zuckte mit den Achseln. „Nun – weshalb soll ich mir den Kopf darüber zerbrechen?!“

Während sie die Treppe zur Veranda hinaufstiegen, fragte er Martin, wo Corrigan wäre.
„Er ist mit dem Frachtschiff nach Hause geflogen“, sagte Martin. „Manchmal teilen sie es so ein. Wenn die Güter verladen sind, ist bis zum nächsten Mal nichts hier zu tun.“
„Oh“, sagte Lindell. „Wohin führt diese Tür?“ Er stieß sie auf und blickte in einen großen Raum, der Wohnzimmer und Bibliothek zugleich war.
„Richtig komfortabel“, sagte er.
„Noch komfortabler“, sagte Martin, der Lindell über die Schulter blickte. „Da drüben stehen noch ein Filmprojektor und ein Tonbandgerät.“
„Toll“, sagte Lindell. „Da kann ich mich mit mir selbst unterhalten.“ Er verzog das Gesicht. „Wollen wir die Koffer hier absetzen? Sie reißen mir die Arme vom Leibe.“
Sie gingen durch die Diele, und Lindell blickte im Vorbeigehen in die kleine Küche. Sie war bis zur halben Wandhöhe mit Fliesen belegt, sauber und ordentlich.
„Kann diese Gnee-Frau kochen?`“ fragte er.
„Nach allem, was ich gehört habe, werden Sie wie ein König essen“, sagte Martin.
“Das freut mich. Sagen Sie mal, wissen Sie, weshalb der Laden hier ‚Drei-Monde-Irrenhaus’ genannt wird?“
“Wer nennt ihn so?“
“Die Jungs auf der Erde.“
“Die sind verrückt. Es wird Ihnen hier gefallen.“
“Aber weshalb dauert hier jede Schicht nur sechs Monate?“
“Hier ist Ihr Schlafzimmer“, sagte Martin.

II.

Als sie eintraten, stand sie mit dem Rücken zur Tür und machte das Bett. Ehe sie sich umdrehte, strich sie noch einmal über die Kissen.
Lindells Hände zuckten. Aber ich habe schon Hässlicheres gesehen, munterte er sich auf.
Sie trug einen schweren Morgenrock, der wie ein abgestumpfter Kegel vom Hals bis zum Fußboden fiel. Alles, was er von ihr sehen konnte, war ihr Kopf.
Es war ein plattgedrückter Kopf, rosafarben und haarlos. Wie der gefleckte Bauch einer tragenden Hündin, dachte Lindell. Anstelle von Ohren hatte sie auf jeder Seite des flachen, kinnlosen Gesichts ein Loch. Ihre Nase war ein kurzer Stumpf mit nur einem Nasenloch. Ihre Lippen waren dick wie die von Affen und umrahmten einen nur kleinen, kreisrunden Mund.
Sie kam ruhig durch das Zimmer auf ihn zu und legte eine feuchte, schwammige Hand in seine.
“Hi“, sagte er.
“Sie kann nichts hören“, sagte Martin. „Sie ist Telepathin.“
“Richtig – das hatte ich vergessen.“ Hallo, dachte er, und Hallo kam der Willkommensgruß zurück. Es ist schön, dass Sie hier sind.
“Danke“, sagte er. Sie scheint ein vernünftiges Kind zu sein, dachte er, komisch, aber gemütlich. Eine Frage drang in sein Gehirn.
“Ja, sicher“, sagte er. Ja, fügte er in seinen Gedanken hinzu.
“Was war das?“ fragte Martin.
„Sie hat gefragt, ob sie auspacken soll.“ Lindell ließ sich auf das Bett fallen. „Aaah!“ sagte er. „Das ist schön!“ Er drückte prüfend auf die Matratze.
„Sagen Sie mal – woher wissen Sie eigentlich genau, daß es eine Sie ist?“ fragte er, als er mit Martin durch die Diele ging, während die Gnee-Frau auspackte.
„Der Morgenrock oder Hausmantel. Männer tragen so etwas nicht.“„Das ist alles?“
Martin grinste. „Noch ein paar andere Sachen, die für Sie aber absolut ohne Interesse sind.“

Sie gingen ins Wohnzimmer und Lindell versuchte, ob er in den Sesseln bequem saß. Er lehnte sich zurück und strich mit den Händen zufrieden über die Armlehnen.
Kritisch oder nicht“, sagte er, „In bezug auf Komfort übertrifft diese Station alle anderen.“
Er mußte plötzlich über ihre Augen nachdenken. Sie waren riesengroß und nahmen ein volles Drittel des Gesichts in Anspruch. Wie dicke, gläserne Untertassen mit dunklen Ringen von Tassen, die Pupillen darstellten. Und sie waren sehr feucht. Er zuckte mit den Achseln und schob die Gedanken daran beiseite. Für mich ist es unwichtig, dachte er.
„Was meinten Sie? “fragte er. Martin hatte etwas gesagt.
„Ich sagte, sein Sie vorsichtig.“ Martin hielt eine Gaspistole hoch. „Sie ist geladen!“ warnte er.
„Wer braucht sowas?“
„Sie nicht. Sie gehört nur zur normalen Ausstattung.“ Martin legte sie in das Schubfach zurück. „Wo alle Ihre Bücher sind, wissen Sie“, sagte er. „Das Büro ist so eingerichtet wie auf allen anderen Stationen.“
Lindell nickte.
Martin blickte auf seine Uhr. „Also – ich muß mich auf die Socken machen!
Lassen Sie mich schnell mal überlegen“, fuhr er fort, während beide zur Tür gingen, „ob ich Ihnen noch irgendetwas erklären muß. Sie wissen schon, daß die Menschen hier von niemandem verletzt werden dürfen.“
„Wer soll denn auf die Idee kommen, sie zu verletzen?“
Beinahe hätten sie sie umgerannt, als sie aus der Tür traten. Sie sprang schnell einen Schritt zurück und starrte sie ängstlich an.
„Keine Aufregung, Kindchen“, beruhigte Lindell. „Was ist denn los?“
Essen? Der Gedanke schmeichelte sich direkt in sein Gehirn ein. Er verzog die Lippen und nickte. „Sie haben mir das Wort aus dem Kopf genommen.“
Er sah sie an und dachte konzentriert: Ich komme zurück, wenn ich den Kopiloten zum Schiff gebracht habe. Bereite uns was Feines zu.
Sie nickte und stürzte in die Küche.

„Wohin rennt sie so eilig?“ fragte Martin, als sie zur Treppe gingen, und Lindell erklärte es ihm.
„Das nenne ich Luxus-Bedienung!“ sagte er leise lachend beim Hinuntergehen. „Diese Telepathie ist in Ordnung. Auf den anderen Stationen mußte ich entweder erst die Hälfte der Sprache lernen, um ein Schinkenbrot zu bestellen, oder den Eingeborenen Englisch beibringen, wenn ich nicht verhungern wollte. Jedenfalls mußte ich für mein Essen richtiggehend schwitzen.“
Er blickte sich zufrieden um. „Es ist heiß.“

Ihre schweren Stiefel zertraten das harte, hohe, blaue Gras, während sie auf das aufrechtstehende Schiff zugingen. Martin streckte seine Hand aus. „Nehmen Sie es leicht, Lindell. In sechs Monaten sehen wir uns wieder.“
„Darauf können Sie sich verlassen. Geben Sie dem alten Wentner für mich einen Tritt in den Hosenboden.“
„Das werde ich.“
Er sah, wie der Kopilot kleiner zu werden schien, während er die Metalltreppe zur Luke hinaufstieg. Ein winziger Martin schritt ins Schiff und warf die Tür hinter sich zu. Lindell winkte dem kleinen Gesicht am Fenster zu, drehte sich dann um und rannte davon, um den Explosionen der Raketen zu entgehen.
Er stand auf einem Hügel unter dem dichten, scharlachroten Blattwerk eines Baumes. Im Bauch des Schiffes hörte er eine Art Husten, gleich darauf Explosionen. Er beobachtete, daß das Schiff einen Augenblick lang sozusagen auf seinem Auspuff aus brüllenden Flammen stand, ehe es in den grünblauen Himmel hineinflog und versengte Pflanzen hinter sich zurückließ. Einen Augenblick später war es verschwunden.

Langsam ging er zum Haus zurück, musterte anerkennend die Vielzahl bläulicher Blumen und Pflanzen auf der Wiese um ihn herum, über denen Insekten ihr Spiel trieben.
Er zog sein Jackett aus und trug es beim Weitergehen in einer Hand. Seinem mageren Rücken tat die Sonne gut.
„Jungs!“ rief er in die wohlriechende Luft. „Ihr seid alle verrückt.“

III.

Die große brennende Sonne war fast untergegangen und färbte den Himmel blutrot. Bald würden die drei Monde aufgehen, von denen es hieß, sie könnten jeden Mann irre machen, der Wert auf seinen Schatten legte.

Lindell saß am Wohnzimmerfenster und blickte auf die Landschaft hinaus. Die Natur hatte sich in dieser entlegenen Ecke der Milchstraße selbst übertroffen. Er seufzte, reckte sich und dachte ans Abendbrot.
Drink?
Er unterbrach ein Gähnen und fuhr auf. Seine Finger preßte er dabei so fest zusammen, daß die Knöchel knackten.
Sie stand neben ihm und hielt ihm ein Tablett mit einem Glas darauf hin. Er griff danach, als sein Herz sich nach dem ersten Schreck zu beruhigen anfing.
„Ich würde anklopfen oder mich sonstwie bemerkbar machen“, schlug er vor. Die riesigen Augen waren jetzt zu Ellipsen verzogen. Sie starrten ihn an.

„Schon gut“, sagte er nach einem Schluck von der warmen, scharfen Flüssigkeit. Er leckte sich die Lippen und nahm noch einen großen Schluck.
„Verflucht gut!“ sagte er. „Vielen Dank, Liebling.“
Er blinzelte. Liebling? Von allen unwahrscheinlichen Namen im Universum … Er sah sie an und mußte ein Lachen unterdrücken.
Sie hatte sich nicht bewegt. Ihr Gesicht verzog sich zu etwas, das er für ein Lächeln hielt, aber ihr Mund war nicht zum Lächeln geschaffen.
„Wann essen wir?“ fragte er und fühlte sich unter dem feststehenden Blick der riesigen, wäßrigen Augen unbehaglich.
Sie drehte sich um und hastete zur Tür. Dort wandte sie sich zu ihm zurück.
Alles schon fertig, empfing sein Gehirn die unhörbare Botschaft. Er grinste, trank das Glas aus und folgte ihr, als sie eilig die Diele entlangschlurfte.

IV.

Mit einem befriedigten Seufzer schob er den Teller zurück und lehnte sich im Sessel bequem nach hinten.
„Das nenne ich eine zünftige Brotzeit!“ sagte er.
Wie einen bisher verborgenen Quell fühlt er ihre Freude in seinem Gehirn aufwallen. Liebling dankt dir.
Sie hat sich den Namen tatsächlich schnell zueigen gemacht, dachte er. Sie sah ihn mit noch weiter aufgerissenen Augen an. Versuchte sie wieder zu lächeln, überlegte er. Ihr kam ihr Gesichtsausdruck wie alle anderen vor – wie die Grimassen eines Idioten.
Ein bißchen nervös tat er einen Teelöffel Zucker in seinen Kaffee und rührte um. Dabei empfand er plötzlich abermals Unbehagen, und sie drehte sich mit einem Ruck um. So ist es besser, dachte er, und fühlte sich wieder wohl.
„He, sag mal, Liebling“, fing er an. Hast du einen Mann?
Die Gedanken, die er als Antwort empfing, waren wirr und unverständlich.
Einen Ehemann!
unterstrich er seine Frage.
Oh, ja.
Im Arbeiterdorf?
Die haben keine Frauen
,
versetzte sie, und ihm war, als ob aus dieser Antwort Hochmut sprach.
Er zuckte mit den Achseln und trank einen Schluck Kaffee. Stimmt, sagte er zu sich selbst, ein befriedigter Arbeiter würde die anderen zum Wahnsinn treiben.

Im Bett saß er noch eine Weile und schrieb in sein Tagebuch. Zwischen den abgenutzten Deckeln standen die spärlichen Bemerkungen, die er über ein halbes Dutzend verschiedener Planeten gemacht hatte. Dies war sein siebter.

Meine Glückszahl, schrieb er mit blauer Tinte.
Alles war still; nichts regte sich. Schlief sie? Seine Feder rutschte aus und machte drei dicke Kleckse. Er blickte auf und sah sie abermals mit dem Tablett.
„Ja“, sagte er. Ja, vielen Dank, Liebling, aber kannst du dich nicht bemerkbar machen, wenn du …
Er schwieg, weil er einsah, daß es hoffnungslos war.
„Werde ich danach besser schlafen?“ fragte er.
Oh, ja, war die Antwort.
Er nahm einen Schluck und blickte dabei auf die Seite mit den Klecksen. Rein literaturgeschichtlich ist es kein Verlust, dachte er, riß die Seite heraus und zerknüllte sie.
„Das schmeckt gut“, sagte er und wies mit dem Kopf auf das Glas. Er hob die Hand mit dem zerknüllten Papier. Wirf es weg, ja?
Wegwerfen?
Fragte sie.
„Richtig“, sagte er. „Und jetzt verschwinde. Was, zum Teufel, hast du im Schlafzimmer eines Mannes zu suchen?“
Sie rannte hinaus, und er grinste, als sie die Tür leise hinter sich schloß.
Er leerte das Glas, stellte es auf den Nachttisch und schaltete die Lampe aus. Mit einem Seufzer ließ er sich auf das weiche Kissen zurückfallen. Was für ein Geschöpf, dachte er schläfrig.
Gute Nacht.
Er stützte sich auf einen Ellenbogen und blinzelte in die Dunkelheit.
Gute Nacht. „Oh“, sagte er, „dir auch gute Nacht.“ Er fiel wieder zurück und gähnte mit weit aufgerissenem Mund.
Er träumte, und aus diesem Traum wachte er schweißgebadet auf.

Fortsetzung folgt

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