Suspense nach Dienstvorschrift

betr.: 94. Geburtstag von Siegfried Wischnewski

Wenn Sie nach einem schlagenden Beweis dafür suchen, dass früher nicht alles besser war, empfehle ich Ihnen eine TV-Legende aus uralten Tagen: den Durbridge-Krimi „Melissa“. Ganz recht, das war einer dieser „Straßenfeger“ („Straßenfeger“ = der kleinere, aber ältere Bruder des „Blockbusters“), eine Fernsehsendung, die jeder und seine Mutti sehen wollte, so dass die Bundesrepublik völlig entvölkert auf die eine nicht einschaltende Person gewirkt hätte, die sich theoretisch zu dieser Zeit hätte draußen herumtreiben können.

„Melissa“ lief erstmals 1966 im gerade noch komplett schwarzweißen Deutschen Fernsehen. Der Name Francis Durbridge stand da längst für die spannendstmögliche Krimi-Unterhaltung. Es waren mehrteilige Filme ohne jede Dramaturgie (in diesem Falle dreiteilig), die stets an jener sprichwörtlichen Stelle in den Abspann übergingen, „in denen der Mörder das Messer hebt“. Sie wurden wie verfilmte Theaterstücke fast komplett im Fernsehatelier gedreht. Alle Wohnungen und Büros hatten wenigstens 200 qm, damit sich die Kamera darin ungehindert bewegen konnte. Um das Publikum – das sich noch in kompletter Familienbesetzung vor dem Bildschirm versammelte, um mitzuraten, wer der Mörder ist – nicht zu überfordern, waren die Dialoge sehr redundant („Darf ich Ihnen was sagen?“ – „Wenn Sie wollen!“ – „So ein Wochenende habe ich ja noch nie erlebt!“ – „Haha, Sie werden’s nicht für möglich halten!“ – „Was denn?“ – „Also, das glaube ich Ihnen auf’s Wort!“).
Jeder Krimihase hat ein Anrecht darauf, dass am Ende der Geschichte alles genau erklärt wird. Die Durbridge-Mehrteiler kamen dieser Pflicht besonders gern und ausführlich nach.
Der Showdown, in der der kreuzbrave Siegfried Wischnewski als unerschrockener (aber eben doch kreuzbraver) Inspektor Cameron den Mord an Titelheldin Melissa aufklärt, gibt uns Gelegenheit, etwas über das damalige Verhältnis der Fernsehmacher zu ihrem Publikum zu erfahren.

Unerbittlich befragt der Ermittler ein junges Mädchen, Typ Sekretärin, das irgendwie in die Sache verwickelt ist: „Miss Carol Stewart! Bitte beantworten Sie wahrheitsgemäß meine Fragen! Haben Sie die Stimme von Melissa Foster imitiert?“
Miss Stewart bejaht überaus schuldbewußt.
Strenge Nachfrage: „Hat Felix Hepburn Sie veranlasst, das zu tun?“
„Ja. Ich sollte für ihn telefonieren.“
„Können Sie sich an den Text erinnern?“
„O ja, genau!“
„Wiederholen Sie die Worte, wie Sie sie damals gesprochen haben!“ Er ändert seine Position und fügt bekräftigend hinzu: „Bitte genau!“
Miss Stewart räuspert sich und wiederholt nicht etwa nur den Text – eine Art retrospektiver Wahn kommt über sie. Während die Kamera langsam näherzoomt, spricht das Mädchen mit glasigem Blick und der erkennbar nachsynchronisierten Stimme der Melissa-Darstellerin Ruth-Maria Kubitschek, langsam und überdeutlich wie bei einem Diktat in der Grundschule. Und wir alle erkennen, dass wir genarrt worden sind. So also kam das tückische Alibi zustande.
Miss Stewart kehrt mit großem mimischem Aufwand aus ihrer Trance zurück und erklärt der erschütterten Zusehergemeinde noch einmal die Situation. Wer es bereits begriffen hat, kann jetzt wissend dazu nicken.
Nach dieser Szene ist man sogar bereit, Edgar Wallace für große Kinokunst zu halten.

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