betr.: 89. Geburtstag von Hugo Pratt
„Er sang, litt und lebte in schwerer Zeit.“
(Inschrift auf dem alten Kleist-Grabmal vor dem Zweiten Weltkrieg)
Es hat unbestreitbare Vorteile, ein Kind der westlichen Welt zu sein. Seit 70 Jahren gab es in Mitteleuropa keinen Krieg – eine Rekordleistung dieses Landstrichs und seiner Bewohner, die mir vor allem vor dem Hintergrund imponiert, dass die Voraussetzungen dafür gerade allerseits zu Bruch gehen.
Ein Nachteil dieser Epoche des Friedens und der Demokratie – ein möglicherweise vollkommen lächerlicher – ist, dass es heute immer weniger Menschen gibt, die in sogenannten „interessanten Zeiten“ gelebt haben. Das wiederum führt zu einem Rückgang guter Geschichten in unseren Medien und unserer Popkultur.
Bequemlichkeit und die Abwesenheit von Katastrophen sind eine trockene Inspirationsquelle.
Die Weltliteraten früherer Jahrhunderte saßen naturgemäß voller großer Geschichten. Als erste fallen mir solche ein, die zur See gefahren sind: Joseph Conrad, Jack London, Herman Melville, Robert Louis Stevenson, Arthur Conan Doyle. Aber auch als Landratte (mit damals noch etwas niedrigerer Lebenserwartung) geriet man zwangsläufig in ungemütliche Zeitläufte hinein.
Selbstverständlich konnten spätere Erzähler ein Aufwachsen in geregelten Verhältnissen stets dadurch auffangen, dass sie Autoren wie die genannten lasen. Aber auch dieser Trend ist seit langem rückläufig – und nicht nur was das Lesen betrifft. Immer wieder erzählen mir Fernsehschaffende und -verantwortliche, dass sie sich auch für Filmklassikern nie interessiert haben.
Was bedeutet das für den Konsumenten? Unterhaltung führt heute hauptsächlich in den Alltag zurück oder an jene fernen Gestade, die die Tourismus-Industrie bereits für uns erschlossen hat.
Ein Autor, der sich als anderes Extrem dieses Entwurfs anbietet, ist der Comickünstler Hugo Pratt. Er las die Klassiker, obwohl schon sein Leben vermutlich reich an Kapriolen gewesen ist – genau wissen wir es nicht, denn er hat stets gerne über seine Biographie fabuliert. Am Beginn des Gesprächsbandes „Le Désir d’être inutile“ (Die Sehnsucht, überflüssig zu sein), verkündete er: „Ich verfüge über dreizehn Versionen meines Lebens. Heute wähle ich die siebte, aus Liebe zur Zahl Sieben.“
Auch wenn nur die Basisdaten stimmen – Pratt kommt 1927 als venezianischer Offizierssohn zur Welt und begleitet den Vater 1937 in das soeben von Mussolini eroberte Abessinien – und es seine Erfindung ist, dass er dort dreizehnjährig in die Miliz aufgenommen wurde, die gegen die Unabhängigkeitskrieger des Negus kämpfte, dürfen wir von einer vergleichsweise bewegten Jugend ausgehen.
Hugo Pratt hat seine Freude am Spinnen haarsträubender Geschichten freilich nicht nur an sich selbst abreagiert – Wen würde es auch gekümmert haben? – er war zunächst einmal ein großer Erzähler. Berühmt würde er durch die Erschaffung des Lügenkapitäns „Corto Maltese“, eines Klassikers der Comic-Literatur, der 1967 seinen Anfang nahm.
Corto Maltese ist der Held der „Südseeballade“, an deren Beginn er aus Seenot gerettet wird – von Rasputin, der dem gleichnamigen sibirischen Wunder- und Gruselmönch nicht zufällig sehr ähnlich sieht. Die Szene spielt im Jahre 1913, am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Nach (zunächst) zwei Jahren und 163 Seiten hatte Hugo Pratt den ersten epischen Comic-Roman geschaffen und damit mehrfach die Weltgeschichte und ihr Personal gestreift. Er hatte sich nicht nur von historischen Geschehnissen, seiner eigenen Biographie und den erwähnten Schriftstellern beflügeln lassen, auch den Comic „Terry And The Pirates“ von Milton Caniff hatte er aufmerksam studiert.
Es war ihm ein Anliegen, einen bestimmten Vorwurf nicht hervorzurufen, der mir vor dem Bildschirm häufiger in den Sinn kommt: „Dieser Künstler ist genauso schlau wie ich!“
Uns allen geht’s zu gut.
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