Die schönsten Filme, die ich kenne (12): „Das Privatleben des Sherlock Holmes“

Billy Wilder ist einer der Großmeister des alten Hollywood. So wie die Nachwelt für Hitchcock die Schublade des „Meisters der Spannung“ (oder schlicht des „Meisters“) freihält, ist Wilder ein Meister der Komödie – „ein Meister“, weil er sich diesen Platz mit Lubitsch (seinem Lehrer und Vorbild) und mit Hawks teilt (der sich wiederum die Schublade des Edelwestern-Meisters mit John Ford teilen muss).
Aber die Nachwelt ist geflissentlich. Von Billy Wilder bleiben ihr vor allem die beiden Filme mit der Monroe im Gedächtnis („Manche mögen’s heiß“, der als beste Filmkomödie überhaupt gefeiert wird, und „Das verflixte siebte Jahr“, der gar nicht mal so geglückt ist und den der Regisseur selbst zu seinen Fehlschlägen rechnete).
Billy Wilders Sherlock-Holmes-Film haben sogar die meisten seiner Fans nie gesehen. Er kam im Jahre 1970 heraus, als das goldene Hollywood des Studiosystems und der Technicolor-Farben gerade am Ende war und Wilders großer Nachruhm noch nicht eingesetzt hatte.
Es ist sein mit Abstand persönlichster Film und einer seiner besten.

Private Life Of Sherlock Holmes_deleted ScenesEin Überblick über das, was im fertigen Film fehlt: Auszug aus dem Bonusmaterial der Laserdisc „The Private Life Of Sherlock Holmes“ (Image Entertainment ID7413MG)

Billy Wilder hatte die Rechte schon Ende der 50er von den Doyle-Erben erworben und spielte zeitweilig mit dem Gedanken, ein Musical daraus zu machen. 1963 sagte er der Presse: „Die drei besten fiktiven Charaktere der Leinwand sind Robinson Crusoe, Tarzan und Sherlock Holmes, und bisher ist keiner von ihnen in einem anständigen Film aufgetreten!“ Er wollte diese Lücke zumindest zu einem Drittel schließen und den  Abgründen des letzteren Helden auf die Spur kommen, den Ursachen für dessen Verschrobenheit, Drogensucht und Misogynie. Zum damaligen Zeitpunkt wünschte er sich Peter O’Toole und Peter Sellers für die Hauptrollen. (Mit Sellers sollte er sich noch im selben Jahr im Rahmen eines anderen Projektes nachhaltig überwerfen.)
Jahre gingen ins Land, in denen u.a. „The Fortune Cookie“ entstand, bis Wilder und sein Partner I. A. L. Diamond ein Drehbuch erarbeitet hatten, mit dem er ans Werk gehen wollte.

„Das Privatleben des Sherlock Holmes“ ist einer von Billy Wilders wenigen Kostümfilmen.* Dr. Watson (Colin Blakely), sein eigentlicher Held, erzählt uns aus dem Off eine Geschichte, die er aus Gründen der Diskretion und Delikatesse dem Publikum einst lieber vorenthalten hat. Nach einer kurzen Episode mit einer russischen Ballerina, die Holmes (Robert Stephens) zum Vater ihres Kindes machen möchte, wird eine vor dem Ertrinken gerettete Frau (Geneviève Page) bei ihm abgeliefert, die ihr Gedächtnis verloren hat. Um ihr Geheimnis zu lüften, reisen Holmes und Watson nach Schottland, wo sie zunächst glauben, mit dem Ungeheuer von Loch Ness Bekanntschaft zu machen. Das Monster entpuppt sich als getarnte Geheimwaffe der britischen Marine, an deren Entwicklung Holmes‘ Bruder Mycroft (Christopher Lee) beteiligt ist, – und die junge Frau als feindliche Agentin, der es einige Zeit gelungen ist, den Meisterdetektiv hinters Licht zu führen.
Zwei Vorzüge krönen dieses leise Drama: der lebensfrohe und an seinem grüblerischen Freund mitunter verzweifelnde Watson-Darsteller Colin Blakely (der in der Synchronfassung von Harald Juhnke feinfühlig nachempfunden wird und dem ein Großteil der humorvollen Momente des Films zufällt) und die Filmmusik von Miklós Rózsa, die auf dessen Violinkonzert basiert.

Der Film war eine auf dreieinhalb Stunden angelegte Roadshow-Produktion**, musste aber auf Drängen des Verleihs auf zwei Stunden gekürzt werden. Die Komplettfassung mit dem Aufkleber „Director’s Cut“ werden wir in diesem Falle nicht erleben. Aus Gram über den Ärger mit dem Film (der ihm sehr viel bedeutete und den er mehrfach als „seinen Liebsten“ bezeichnete) und seinen Misserfolg ließ der Regisseur das Material umkommen. Als Image Entertainment im Jahre 1994 ein Laserdisc-Doppelalbum mit einer rekonstruierten Fassung von „The Private Life Of Sherlock Holmes“ herausbrachte, waren von den fehlenden Passagen nur Fragmente aufzutreiben: vom ersten der vier Kapitel „The Curious Case Of The Upside Down Room“ existierte nur noch die Tonspur, vom dritten Kapitel „The Dreadful Business Of The Naked Honeymooners“ der tonspurlose Filmstreifen, der für diese Veröffentlichung untertitelt wurde. Es ist umso erstaunlicher, dass selbst der gekürzte Sherlock Holmes ein echter Billy Wilder ist: ein makellos konstruiertes Drehbuch.

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* In der Fernsehzeitung steht üblicherweise „Engl. Krimikomödie“, was falsche Erwartungen weckt. „The Private Life Of Sherlock Holmes“ ist leises Drama mit einer unerfüllten Liebesgeschichte und kleinen Grusel-Effekten, in dessen Dialogen immer wieder der Wilder-typische Humor aufblitzt. Er ist auch keineswegs eine Holmes-Parodie, wie man mitunter liest. Die Unmöglichkeit, ihn einem Genre zuzuordnen, hat es dem Film nicht leichter gemacht.
** Im heutigen Zeitalter des „Blockbuster“-Kinos sind große Budgets und Überlängen der Normalfall. In den 60er Jahren waren immerhin die Hälfte der Oscar-Gewinner für den „Besten Film“ Großproduktionen. In dieser Liste fanden sich auch einige stargespickte Komödien, die die kommerziellen Erwartungen erfüllten: „It’s A Mad, Mad, Mad, Mad World“, „The Great Race“ und „Those Magnificent Men In Their Flying Machines“. Ende der 60er führten kostspielige Musical-Flops wie „Star!“, „Paint Your Wagon“ und „Hello, Dolly!“ zum Ende der Roadshow-Ära. Das war der Zeitpunkt, zu dem Wilder mit seinem aufwändigen Holmes aus dem Atelier kam.

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