Die schönsten Filme, die ich kenne (16): „Du lebst noch 105 Minuten“

Die schwerreiche Leona Stevenson liegt im Bett und telefoniert – durchs Fenster sehen wir, wie sich der Abend über New York legt. Sie macht sich Sorgen, wo ihr Mann bleibt, doch in seinem Büro kann man ihr nicht weiterhelfen. Durch einen Vermittlungsfehler belauscht sie das Telefonat zweier Männer, die sich offensichtlich für einen Mord verabreden. Entschlossen, ein gutes Werk zu tun, denn Mrs. Stevenson hält sich für einen außerordentlich guten Menschen, teilt sie ihr Erlebnis im folgenden Anruf einem Polizeibeamten mit. Wieder erreicht sie nichts – denn selbstverständlich hat sie zu wenige belastbare Hinweise. Und vermutlich war das Ganze ohnehin nur Einbildung, meint der Polizeibeamte. Mrs. Stevenson sieht das anders – und telefoniert weiter …

So beginnt „Sorry, Wrong Number“ (USA 1947), der im Deutschen „Du lebst noch 105 Minuten“ heißt (was nicht der Länge des Films, aber in etwa der Handlungszeit entspricht). Es ist ein schwarzweißes Kammerspiel, das sich im Grunde nur im Schlafzimmer der feinen Lady abspielt. Doch wir verlassen diesen Raum, um nach den zahlreichen Menschen zu sehen, mit denen diese in jener Nacht telefonieren wird, und für einige aufschlussreiche Rückblenden.
So besuchen wir die Frau eines Ermittlers, die Mrs. Stevenson von früher kennt, betreten ein verfallenes Haus auf Staten Island, in dem eine Gangsterbande Pläne schmiedet, und treffen dort auf den deutlich jüngeren Mr. Stevenson (Burt Lancaster in einer seiner ersten Rollen), einen leidenden Pantoffelhelden, der sich mit den Gangstern eingelassen hat. Wir werden sogar zurückgerufen – von einem Wissenschaftler, der ebenfalls auf die schiefe Bahn geraten ist und der uns mit seiner leisen, freundlichen Stimme in den Wahnsinn treibt.
Während Mrs. Stevenson – vergeblich – auf die Heimkehr ihres Mannes wartet, erfahren wir, was für ein Mensch sie ist: das verwöhnte Kind eines reichen Mannes, das es gewohnt ist, zu bekommen, was es haben will. Wenn ihr Reichtum und die Macht ihres Vaters nicht ausreichen, flüchtet sie sich in hypochondrische Anfälle, die zunächst nur dazu dienen, die Mitwelt unter Druck zu setzen. Doch schon vor langer Zeit ist sie sich selbst auf den Leim gegangen und glaubt an ihre Krankheit. Nur aus diesem Grund ist sie bettlägerig und muss die Außenwelt per Telefon befehligen.
Und nur aus diesem Grund, kann sie nicht einfach davonlaufen, als ihr dämmert, dass sie selbst das geplante Mordopfer ist (- sie schafft es nicht einmal bis zum Fenster). Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um dieses Verbrechen zu verhindern, und das kann nur per Telefon gelingen …

„Sorry, Wrong Number“ war zunächst ein erfolgreiches Hörspiel, in dem die Schauspielerin Agnes Moorehead glänzte. Für die Filmversion wollte die Produktion eine Prominentere haben, doch das erwies sich ausnahmsweise als Glücksfall. Während Agnes Moorehead, eine überaus fähige Nebendarstellerin, auf boshafte Charaktere quasi festgelegt war, konnte die schöne, aber abgründige Barbara Stanwyck die Ambivalenz dieser Figur optimal herausarbeiten: das herrschsüchtige, vereinsamte Alpha-Weibchen, das in sich selbst den schlimmsten Feind gefunden hat. Der Film badet in zumeist finsteren Schauplätzen und ist ein Lehrstück für die alte Theaterweisheit, dass auch die kleinste Nebenrolle wichtig genug ist, um gut besetzt zu werden.
Die Autorin von Hörspiel und Drehbuch war Lucille Fletcher, die zu dieser Zeit mit dem Filmkomponisten Bernard Herrmann (einem weiteren Thriller-Spezialisten) verheiratet war.

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2 Antworten zu Die schönsten Filme, die ich kenne (16): „Du lebst noch 105 Minuten“

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