Broadway’s Like That (47): „Anatevka“

15. Das Ende der Tin Pan Alley (6)

Für die kleinen Leute setzt Bocks & Harnicks „Fiorello!“ sich ein. Kleine Leute sind es auch, die im Mittelpunkt ihres Welterfolges von 1964 stehen: der arme Milchmann Tevje, gesegnet mit fünf Töchtern, und die anderen jüdischen Bewohner des unkrainischen Dorfes „Anatevka“. Dem Libretto von „Fiddler On The Roof“ – so der Originaltitel – hat der Librettist Joseph Stein mehrere Kurzgeschichten des jiddisch schreibenden Schriftstellers Sholem Alechem zugrundegelegt. Der Literat Ben Hecht beschreibt die Eigenart von Sholem Alechems Figuren:
Sholem Alechems kleine Leute liebten das Leben mehr als das Unglück, und wenn sie nichts mehr zu beißen hatten, dann nährten sie sich von ihrem Witz. Sie machten sich sogar ein wenig über ihren Gott lustig. Sie lästern Gott zwar nicht gerade, aber manchmal vertrauten sie ihren von der Arbeit erschöpften Pferden oder den dunklen Wänden, die vor ihnen aufragten, ihren Verdacht an, der Allmächtige müsse Augen wie eine Eule haben, so emsig sein wie ein Biber, um solch kleine Leute wie für solch große und komplizierte Kalamitäten auszuspähen!“

Rich ManUnter dem Titel „Wenn ich einmal Reich wär'“ wurde Tevjes Themalied zu einem Evergreen in der Bundesrepublik und zum Inbegriff jüdischer Musik. Marcel Reich-Ranicki beklagte sich verschiedentlich, wie oft das Lied gespielt wurde, um ihm eine Freude zu machen, wenn er ein Lokal betrat.

Gewitzt rechtet Tevje mit Gott. Warum, fragt Tevje als Einleitung zum berühmtesten Song der Show „If I Were A Rich Man“, hat er es bloß für nötig befunden, ihn arm statt reich zu machen? Zero Mostel durfte diesen Part – zu seiner bitteren Enttäuschung – auf der Leinwand nicht wiederbeleben. Dort wurde er durch Haim Topol ersetzt. Wie bedauerlich das ist, lässt sich an Mostels wenigen Filmauftritten ablesen – in der Originalversion von Mel Brooks‘ „The Producers“, in Sondheims „A Funny Thing Happened On Way To The Forum“, aber vielleicht nirgends so gut wie in Martin Ritts „The Front“ / „Der Strohmann“ von 1976. Darin spielt Mostel – eine Parallele zu seiner wahren Biographie – ein Opfer der Hexenjagd des Senators McCarthy. Eine besonders eindrucksvolle Szene zeigt ihn in den Catskill Montains, wo Leute wie er und sein Mitspieler Woody Allen sich einstmals ihre ersten Sporen als Stand-Up-Comedians verdient haben.

Der Musik zu „Fiddler On The Roof“ hat Jerry Bock eine jüdische Färbung verliehen. Er erzielt diese Colorierung etwa durch eine ungewöhnliche Dur-Moll-Vermischung und durch modale Skalen. Dieser Tonfall, bemerkt Bock, stand ihm ganz natürlich zur Verfügung, „denn ich konnte mich auf meinen eigenen Hintergrund, auf die Musik, mit der ich aufgewachsen war, beziehen.“ Der Titel des Musicals „Fiddler On The Roof“ geht auf ein Gemälde Marc Chagalls – „Der grüne Geiger“ – zurück. Dieser auf dem Dach balancierende Geiger ist das Sinnbild des gefährdeten, durch zaristische Willkür und Verfolgung bedrohten Lebens der jüdischen Gemeinschaft in Anatevka. Tevjes Rede gleich zu Beginn macht das klar: „In unserem kleinen Dorf Anatevka ist eigentlich jeder von uns ein Geiger auf dem Dach, der versucht, eine hübsche kleine Melodie herunterzukratzen, ohne sich den Hals zu brechen. Sie fragen sich vielleicht, warum wir hier oben bleiben, wenn das so gefährlich ist. Wir bleiben, weil Anatevka unsere Heimat ist. Und wie halten wir unser Gleichgewicht? Das kann ich Ihnen mit einem Wort sagen: Tradition!“

„Tradition“ – die Eröffnungssequenz umreißt, was dem ganzen Stück Hintergrund und Tiefe verleiht: Tradition, ihre Bedrohung, Abschied – damit ist das übergeordnete Thema von „Fiddler On The Roof“ beschrieben. Auf diese Folie bleibt auch die eigentliche Handlung des Musicals bezogen: die unkonventionellen Heiraten von Tevjes drei älteren Töchtern und der schließliche Abschied von einer Lebensform, wenn die Juden Anatevka verlassen müssen. Ob der Geiger auf dem Dach auch an einem anderen Ort sein Gleichgewicht wird halten können, bleibt ungewiß.
Dass sein zentrales Thema in „Fiddler On The Roof“ so deutlich formuliert wurde, ist sicherlich auch ein Verdienst seines Choreographen und Regisseurs Jerome Robbins, der in diesen Funktionen schon bei „West Side Story“ so innovativ gewirkt hatte. Seine Mitarbeiter bei „Fiddler On The Roof“ hatte er beharrlich gefragt: Worum geht es in der Show? Diese Formulierung eines übergeordneten Leitgedanken ist der Vorbote einer Form des Musicals, die sich vom Integrierten Musical Play á la Rodgers & Hammerstein lösen sollte. Das hatte eine fortlaufende Geschichte erzählt, Handlungs- und Musikteile griffen organisch ineinander.

„Fiddler on the Roof“, eines der erfolgreichsten Musicals des 20. Jahrhunderts, sprengt die Konvention von Happy End und Showtreppe auf: Als ein Pogrom angedroht wird, müssen die Figuren ihr Schtetl binnen drei Tagen verlassen und wandern in die USA aus. Damit stehen wir quasi am Beginn der Musicalindustrie, die sich am Broadway professionalisiert und an der viele jüdische Künstlerinnen und Künstler beteiligt sind. 40 Jahre später wird es im Musical “Spamalot” sehr zutreffend heißen: „You won’t succeed on Broadway if you don’t have any Jews!“ (“Wer ein Stück erfolgreich an den Broadway bringen will, braucht Juden!”).

Forts. folgt

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