Die wiedergefundene Textstelle: „Das Ehepaar Krestoffer Herkrud“

betr.: 82. Jahrestag der Einstellung des „Simplicus“, der deutsch-tschechischen Emigrationsausgabe des „Simplicissimus“

Der Maler und „Bildnissatiriker“ Olaf Gulbransson war einer unserer großen Karikaturisten. In der Weimarer Republik erschienen seine rotzfrechen politischen Arbeiten im „Simplicissimus“, im Dritten Reich zog er den Kopf ein und konnte durcharbeiten. Er starb 1958.
Verblüffend: Gulbranssons berühmte Künstlerportraits lassen keinen Personalstil erkennen, er arbeitete auch – je nach Typ und Visage seines Gegenstandes – mit unterschiedlichen Werkzeugen und Techniken. In seinen Lebenserinnerungen „Es war einmal“, in denen er 1934 seine Kindheit und Jugend in Norwegen bis zum Wechsel nach München beschreibt, ist das anders; hier liegen seine Illustrationen irgendwo zwischen Wilhelm Busch und jenen frühen Ursprungsfassungen der „Tintin“-Bücher von Hergé, die noch in Schwarzweiß gehalten und inzwischen als Nachdrucke erhältlich sind. Ein Stilmittel: seine Figuren – sogar die Damen – haben gewaltige Pranken, in denen ein Großteil ihrer Stimmung und Persönlichkeit eingefangen ist.
In „Es war einmal“ erweist sich der großartige Zeichner Gulbransson als ebensolcher Erzähler und führt uns radebrechend und mit naturwissenschaftlicher Präzision durch ein Arkadien grotesker Typen und archaischer Verhältnisse.
Die folgende Passage, die er in seinen Teenagerjahren Ende des 18. Jahrhunderts miterlebte, beschwört „Die Naturgeschichte von Selborne“* herauf.

Herkruden war noch schwerer wie der Boden, hatte beinah kein Gesicht vor lauter Bart und Haar. Sein Mund war nicht zu sehen. Er fraß immer Brot und Speck aus der Pfanne. Wenn er dann satt war, sah man bloß einen dunklen Fettkrater dort, wo sein Mund sein sollte. Messer und Gabel würden glatt in diesem Bart stecken bleiben.
Was er sagte, kam auch ganz gedämpft heraus. Drum waren seine Erzählungen so unheimlich. Er kannte alle Nordmarkas Märchen. Für den großen norwegischen Märchendichter Asbjørnsen waren Herkrud und Elias Fisker die Quellen. Von den berühmten gedruckten Märchen wusste aber Herkruden nichts.
Er musste, wunderlich genug, durch seine Borsten sterben. Er hatte nämlich nicht bloß in seinem Gesicht so viel Haar. Er hatte auch den Rücken hinunter, bis zum Schluss, Borsten. Wie bei einer Gams. Sein Weib war aber so brav. Sie wusch ihn jeden Samstagabend mit Schmierseife. Nachher kämmte sie ihm seine Borsten mit einem alten Messingkamm herunter.
Er sah auch aus wie vor vielen tausend Jahren, wenn sie ihm am offenen Feuer den Rücken entlang kämmte.
Sie wurden so miteinander alt. —
Aber einmal starb sie – und – keiner – wusch – und kämmte Herkruden mehr. Das konnte er nicht ertragen.
Er wurde krank. Es gingen Würmer in seine Borsten wie beim Vieh. – Niemand half ihm. Und so musste Herkruden sterben.

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* Siehe dazu https://blog.montyarnold.com/2016/06/27/die-wiedergefundene-textstelle-der-bienenjunge/

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