Die schönsten Filme, die ich kenne (39): „Der Fänger“

Michael Haneke  beschreibt in einem langen Interview* einen Film im Film „Code inconnu“: die Geschichte eines Immobilienmagnaten, der Leute in seine Villa lockt, um sie dort einzusperren und ihnen „beim Sterben zuzusehen“: „Ich wollte selbst mal so einen Film drehen. Aber dann hat mich jemand darauf hingewiesen, dass es schon so einen ähnlichen Film nach einem englischen Roman gibt, ‚The Collector’ von John Fowles.“
Die Szenen, die wir von diesem fiktiven Werk in „Code inconnu“ zu sehen bekommen, sind reinster Haneke, und hätte er es tatsächlich es tatsächlich verwirklicht, wäre es womöglich – mit viel geringeren Mitteln – ein noch abscheulicherer Alptraum geworden als „Funny Games“.
Wir können uns über diesen Verlust mit Hanekes realisierten Projekten hinwegtrösten. Und mit William Wylers Version der Geschichte – und die ist keineswegs abscheulich.

William Wyler gehörte zu den erfolgreichsten Filmemachern Hollywoods. Man könnte sein Oevre als leise und skandalfrei bezeichnen: ohne Gedöns und pompöse Effekte. Sogar die monströse Auftragsarbeit „Ben Hur“ lässt sich auf ein (homoerotisches) Kammerspiel herunterbrechen.
Wyler portraitierte den Menschen als von sich selbst betrogenes Wesen, ohne nihilistisch zu werden. Immer wieder schaffen es seine Figuren, sich auf die eine oder andere Weise aus ihrem Teufelskreis zu herauszuwinden. Scheitern sie, sind sie in aller Regel selbst schuld.
In seinem Spätwerk „The Collector“ gilt das aber nur für einen der beiden Protagonisten.

Der asexuelle zwanzigjährige Bankangestellte Freddie Clegg (Terence Stamp) gewinnt beim Pferde-Toto 200.000 Pfund. Das ermöglicht es dem Sonderling, sich in Sussex ein einsam gelegenes Bauernhaus mit einem verliesartigen Anbau zu kaufen. Im Haus pflegt er seine große Sammelleidenschaft: Schmetterlinge, die er auf den umliegenden Feldern einfängt. Im Verlies wird er dieser Sammlung ein besonders schönes Exemplar hinzufügen: die Kunststudentin Miranda Grey (Samatha Eggar), die er seit langem heimlich verehrt. An ihr möchte er etwas erproben, was sich mit den Schmetterlingen nicht machen lässt: er will geliebt werden, und zwar um seiner selbst willen. Dieses von vorneherein aussichtslose Unterfangen wird bis zum bitteren Ende ausgetragen. Nur einer der beiden wird den Schauplatz lebend verlassen.

Einen besonderen Reiz bezieht „Der Fänger“ aus seinen wohltemperierten Kontrasten. Maurice Jarre hat dafür seinen einfühlsamsten Soundtrack geschrieben, in dem er sich ganz auf die leicht schwüle Lebendigkeit konzentriert, die den klaustrophobischen Wahnsinn im Kerker umgibt. Doch es ist auch Glück im Spiel: wäre der Film nur drei Jahre später entstanden, hätte er auf die Technicolor-Farben verzichten müssen, die nicht nur den blühenden Sommer optimal herausstellen, sondern auch die Dunkelheit brodeln und funkeln lassen.

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* „Haneke über Haneke“, M. H. im Gespräch mit Michel Cieutat und Philippe Rouyer, Editions Stock, 2012 / Alexander Verlag, 2013

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