Die wiedergefundene Textstelle: „Grenzerlebnisse“

betr.: Deutsche Teilung / Berliner Mauer-Jubiläum (übermorgen)

Heute ist die Berliner Mauer genauso lange verschwunden wie sie existiert hat. Das erinnert mich an eine Passage aus einem der witzigsten Bücher, die ich je gelesen habe: „Man glaubt es nicht“*. (Es besteht zur Hälfte aus den Texten des ewigen Geheimtipps und Loriot-Vorbildes Heino Jaeger – doch die sind auf den Aufnahmen mit seinen Eigen-Interpretationen** fast noch komischer – und wird ergänzt durch eine koloritreiche Jaeger-Biographie von dessen Jugendfreund Joska Pintschovius.)
Hier geht es nicht explizit um die Berliner Mauer mit ihrem Todesstreifen sondern um die sie weitläufig umgebende deutsch-deutsche Grenze. „Man war ja nun wirklich begnadet, in so einer verrückten Zeit zu leben!“ erinnert sich der Westdeutsche Pintschovius. „Das musste man total auskosten!“
Der Anarcho-Humorist Heino Jaeger war sich dessen ebenso bewusst und betrachtete das Nachkriegs-Europa mit seinen noch nicht verheilten historischen Wunden als großen Horror-Erlebnispark.

Jaeger-DDR1
Zeichnung: Heino Jaeger

Sich den Grenzbefestigungen zu nähern war stets ein sonderbares Gefühl. Mit Wachtürmen und fantasievollen Menschenfallen hatte sich die furchtsame Ostrepublik umbaut, und wenn auch diese Befestigung den eigenen Bürgern galt, die westdeutschen Reisenden fühlten sich von der „Lagerstimmung“ ängstlich bedroht und folgten artig den Anweisungen der Grenzer, ja buckelten devot um die Kontrolleure herum, liefen rot an, wenn der Herr Soldat mit Schäferhundeblick die Gesichtskontrolle durchführte und je nach Lust und Laune die „Reisedokumente“ gnädig wieder aushändigte oder die Verschüchterten in kleine Verhörstuben einwies. Dort wurde dann nach Sinn und Zweck der Reise gefragt, bisweilen auch ein kleiner Politikunterricht erteilt, und schließlich durfte man sich ausliegende Broschüren mitnehmen: „DDR, 300 Fragen, 300 Antworten, Was ist mit dem Selbstbestimmungsrecht der Deutschen“ von Gerhard Kegel, und Otto Reinhold hatte für die „Bürger der BRD“ ein Heftchen über den „Monopolkapitalismus“ verfasst.

Diese Heftchen wurden in großen Mengen eingesteckt und für die West-Grenzer gut sichtbar auf die Rückbank gelegt. Selbige wurden dann auch wieder grantig und winkten Jaeger und Pintschovius raus – ein voller Erfolg!

Für Jaeger und mich war diese Zone deutscheigentümlicher subalterner Machtgeilheit ein Pläsir erster Güte, und wie bei jedem Grenzübertritt hofften wir auch diesmal auf das volle Programm der Abfertigung, ja bestanden sogar auf „ordnungsgemäße“ Kontrolle. „Ordnungsgemäß“, ein favorisiertes Wort staatlicher Ordnungskräfte der DDR, umfasste einen Katalog genau festgelegter Verhaltensnormen für grenzüberschreitende Bürger aus dem kapitalistischen Ausland, Klassenfeinde also, die man bei Verstößen mit schikanösen Bosheiten traktieren durfte. Freilich konnte man kaum auf „ordnungsgemäße Kontrolle“ bestehen, es handelte sich ja bekanntlich um ein Willkürsystem, und entsprechend unterschiedlich war die Behandlung, zumal wir den Eindruck hatten, dass unsere offensichtliche Furchtlosigkeit das Interesse der Zöllner und Soldaten minderte.
Mehr Glück hatte man bei den Flintenweibern, sie waren meist giftiger und ließen sich leichter provozieren, aber an diesem herrlichen Septembertag hatten wir wenig Glück, eine Zöllnerin verwies uns an einen männlichen Kollegen, und der Grenzsoldat wollte es mit einer kurzen Inaugenscheinnahme bewenden lassen: Aussteigen, Rückbank hochheben, Handschuhfach einsehen, in den Motor gucken, das Sparprogramm also, keine „ordnungsgemäße“ Abfertigung, geschweige denn ein schikanöses Sonderprogramm. Als Jaeger mit der Bemerkung „Dauert es noch lange?“ beim Ordnungsorgan Unwillen provozierte, gelang dies nur bedingt, nicht er, sondern ich wurde in das Verhörkäfterchen zitiert, vermutlich weil mein Lederkoffer klassenfeindlicher wirkte. Als Jaeger daraufhin seine elende englische Feldtasche ergriff, hinter mir und meinem Bewacher herlief und auch um Kontrolle flehte, wurde er brüsk zurückgewiesen. Mit Kasernenbrüllhofstimme, so laut, dass ein von einem Hundeführer geführter Wolfshund jammervoll aufheulte und an der Leine zerrend in ein wütendes Gekläffe fiel, brüllte der Grenzwächter: „Machen Sie sofort, dass Sie wieder in den Wagen kommen!“
Etwa nur eineinviertel Stunden nahm mein deutsch-deutsches Gespräch in Anspruch, dann wurde ich zur Weiterfahrt entlassen.

Jaeger-DDR2Zeichnung: Heino Jaeger

Erst der nächste Grenzposten hält für unsere Transit-Abenteurer die erflehten Freuden bereit:

Von den schönen Stimmungsbildern euphorisch animiert, passierten wir schließlich die ersten Sperranlagen vor dem Grenzübertritt Staaken, überfuhren den haltgebietenden Wartestreifen und bretterten mit zu hoher Geschwindigkeit vor das Kontrollkabäuschen. Wieder offenbarte sich DDR als Willkürregime, der Wachtposten erteilte uns keinen Anschiss, grinste sogar freundlich, hieß uns aussteigen, um das Prozedere der Inneninspektion des Wagens zu absolvieren. Zuvor hatte er mit seinem Spiegelwägelchen die Bodenwanne abgespiegelt. Jaegers Bemerkung, dass dies ja ein besonders flacher Flüchtling sein müsse, ließ mich vor Schreck erstarren, doch der Soldat reagierte nicht. Vermutlich hatte er diese ungeheuerliche Frechheit für so unmöglich gehalten, dass er sie gar nicht wahrgenommen hatte. Zur ordnungsgemäßen Untersuchung kroch er in den kleinen Käfer und befingerte die Verkleidungen, hob den Rücksitz. Jaeger machte mich mit Handzeichen auf das das ungünstige Bild des Grenzers aufmerksam, wie er uns, in den Wagen gebeugt, den Arsch entgegenstreckte. Die strammen Waden mit den heruntergerutschten Stiefeln sahen aus wie Keulen, und Jaeger zückte ein kleines Heftchen und zeichnete ungeniert die Szene. Wir wurden indes beobachtet: ein Zollorgan hatte uns im Visier, eine robuste Matrone glaubte ihren Augen nicht zu trauen, stierte zu uns herüber und marschierte flugs parademarschartig in unsere Richtung. „Was machen Sie da?“ fragte sie streng. „Zeigen Sie es mal her!“ Sie entriss Jaeger das Heft, blätterte es durch, klopfte es auf die Hand. Verdattert schaute der Kontrolleur aus dem Wagen, beide gingen zur Seite, verhandelten kurz, dann ging unser Soldat zur Abfertigungsbaracke, und bald darauf erschienen zwei Finsterlinge, die uns den kurzen Befehl erteilten, an die Seite auf eine flutlichterleuchtete Fläche zu fahren. Gehorsam folgte ich der Anordnung, und nun begann die richtige ordnungsgemäße Abfertigung. Türen, Kofferraum und Motorraumklappe wurden geöffnet, Radkappen abgenommen und schließlich die Innenverkleidung gelöst. Sogar die Batterie unter dem Rücksitz wurde herausgeschraubt und beiseitegestellt. Es folgte eine genaue Untersuchung des Mülls, Bonbonpapiere wurden entfaltet, jedes Zettelchen genau beäugt, das Radio aus der Halterung genommen und die Rückenlehne entfernt.
Eine gute Stunde mochte die Prozedur in Anspruch genommen haben, dann ließen die Männer von uns ab. „Einpacken“, befahlen sie und trotteten zurück zur Baracke. Es war Schwerstarbeit, das Auto wieder fahrtüchtig zu machen, schwitzend baute ich es wieder zusammen, während Jaeger es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich gemacht hatte und fruchtlose Ratschläge bezüglich des Wiedereinbaus der Rückenlehne gab.
Endlich hatte ich es geschafft, doch an eine Weiterfahrt war nicht zu denken, die Reisedokumente hatte der DDR-Zerberus konfisziert, und so hieß es warten, warten, warten. Endlich erschien ein „Höherer“, der uns nach gestrengem Fixieren die Pässe aushändigte und mit den Worten: „Uff unserm Derridorium spielt sich nischt ab, meine Herren!“ die Weiterfahrt genehmigte.

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* Kein & Aber AG Zürich 2005, herausgegeben von Joska Pintschovius
** erschienen beim Label Kein & Aber

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Eine Antwort zu Die wiedergefundene Textstelle: „Grenzerlebnisse“

  1. Brüder im Geiste, ich bin ebenfalls Heino-Jaeger-Fan und durch Pelle auf diese Blog gestoßen
    Auch ihre Snchro Nummern (Funes,Hüsch) genial

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