Vertriebener ohne Verband

Kurz nach meinem fünften Geburtstag schaffte man mich vom Niederrhein, an den ich kaum Kindheitserinnerungen habe, ins Saarland. Da meine Eltern mich begleiteten, nenne ich das Ganze heute gern „Helikopter-Kinderlandverschickung“. Angeblich erfolgte unser Umzug in die südwestdeutsche Hochburg der Kohle- und Stahlindustrie wegen meiner schwachen Lunge. (Ich war also offiziell selbst schuld.) Wir ließen uns in einem winzigen Dorf nieder, in dem die Familie meines Vaters lebte. Dort gingen die Uhren anders, das spürte ich sofort. Der Pfarrer („de Baschdoa“) war die höchstgeachtete Person im Ort, und mein Leben und das meiner Geschwister spielte sich zunächst in der Kate unserer Großmutter ab. Dort gab es zwar schon einen modischen Ölofen, aber die einzige (nicht beheizbare) Toilette war nur durch einen gruseligen, salpeterbehangenen Keller zu erreichen. Während in Mönchengladbach die Leute bereits mit langen Haaren und in Schlaghosen herumliefen, erinnerte mich das Erscheinungsbild  meiner neuen Umgebung eher an die Zeichnungen von Wilhelm-Busch. Hier war die Tradition noch lebendig, nach der die Kinder die Klamotten ihrer älteren Geschwister und diese die ihrer Eltern aufzutragen hatten.

Saarszenen-Busch
Szenen aus dem Saarland (um 1972)

Mit ihrer typischen Attitüde eines beständig schlechten Gewissens erklärte mir meine Mutter oft, dies sei der wundervollste Ort der Welt, und auf dem Dorf sei es generell viel schöner als in der Stadt.
Wie lange ich bereit war, dieser Mär auf den Leim zu gehen, wurde mir bewusst, als ich etwa zwölf Jahre später begann, eine Bühnenlaufbahn anzustreben. Obwohl meine Mutter unsere dörfliche Kirchenorgel spielte, mochte sie mich ungern bei meinem ersten Auftritt am Klavier begleiten (einem weniger komplizierten Tasteninstrument).
Aber wen konnte man stattdessen darum bitten?
„Geht doch bäi de Busch-Rees!“ riet man uns. Dieser entpuppte sich als ein etwa 80jähriger Herr namens Birtel, den wir in einer Gaststätte namens „Busch-Rees“ in einem Ort in der Umgebung fanden. Meine Mutter begleitete mich und machte uns bekannt. Kaum hatte der Alte mich sprechen hören, dramatisierte sich sein Gesichtsausdruck. Wieselflink hatte er mich als Zugereisten erkannt. Er fragte mich, wo ich geboren sei. (Meine Mutter wechselte die Farbe …) In Mönchengladbach, antwortete ich. „Waaaas?“ entfuhr es Herrn Birtel. Und da verschlüge es mich jungen Menschen ausgerechnet in diesen gottverlassensten Wurmfortsatz der Republik? (Wie man sich erinnert, war das Land noch geteilt …) Wir seien eben alle zusammen hierhergekommen, antwortete ich hilflos. Er hustete krachend und erklärte mir, das sei eine schlechte Wahl gewesen. Das Saarland sei doch eine einzige Inzucht! (Jetzt wollte am Mutti liebsten im Boden versinken und mich gleich mit runternehmen.) Irgendwie schaffte ich es, Herrn Birtel zu überreden, mich gelegentlich bei drei Liedern am Klavier zu begleiten. Dann flüchtete meiner Mutter mit mir durch einen Seiteneingang. Die Rückfahrt verlief schweigend.

Den Vorwurf der „Inzucht“ verstand ich erst nach einigem Überlegen. Da begriff ich auch, warum man früher „Flecken“ zu menschlichen Siedlungen gesagt hat. Man muss sich die Besiedlung des Saarlandes wie eine Petrischale vorstellen, auf der sich am Tag nach einem Labor-Experiment diese charakteristischen roten Pünktchen gebildet haben. Jedes Pünktchen entspricht einem winzigen Örtchen mit ein- bis anderthalbtausend Einwohnern. In jedem davon wurde über viele Generationen hinweg großer Argwohn gegen die umliegenden Örtchen gehegt und gepflegt. Man heiratete nur innerhalb der Gemeinde.

Zu meiner Zeit lockerte sich dieses Kastensystem gerade langsam auf, aber noch im Gymnasium, wo die Kids unterschiedlicher Dörfer zusammenkamen, hörte ich viel darwinistisches Gerede darüber, wie doof die jeweils anderen wären.

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