Die wiedergefundene Textstelle: Ein Filmhistoriker als Magier der Leinwand

betr.: 50. Todestag von Ernst Deutsch

Wir Hamburger kennen Ernst Deutsch als den Namensgeber eines unserer wichtigsten Privattheater. Es wurde vom damaligen Prinzipal Friedrich Schütter nach ihm benannt, um seinen Erfolg als „Nathan der Weise“ auf dieser Bühne zu würdigen. Zum ersten Mal ist mir sein koboldhaftes Gesicht im Klassiker und Kultfilm „Der dritte Mann“ aufgefallen.
In der Emigration in Hollywood hatte Ernst Deutsch hin und wieder Nazis gespielt, eine Ironie, die er mit einigen deutsch-jüdischen Schauspielern jener Jahre teilt. Sein letzter amerikanischer Film war im Jahre 1945 das Schauermelodram „Isle Of The Dead“ an der Seite des großen Boris Karloff.
Mit diesem Film beschäftigt sich William K. Everson in seinem Standardwerk „Klassiker des Horrorfilms“, und er beschreibt den dritten Grund neben Deutsch und Karloff, diesen Film bei Gelegenheit wiederzusehen:

Die Handlung dreht sich um eine Reisegruppe, die auf eine vom Krieg heimgesuchte, verseuchte griechische Insel verschlagen wird. Unter anderem gibt es da Katherine Emery, eine Frau mittleren Alters, die unter kataleptischen Anfällen leidet und eine panische Angst davor hat, während eines solchen Anfalls lebendig begraben zu werden. Der Zuschauer ist sich natürlich darüber im klaren, dass ebendiese Situation unausweichlich eintreten wird, und die Spannung steigt noch durch die permanente Angst der Frau und ihre Bitten, man möge sich vor ihrer Beerdigung vergewissern, dass sie auch wirklich tot ist. Gegen Ende des Films stirbt sie scheinbar tatsächlich, man untersucht sie – mit negativem Ergebnis -, und sie wird beerdigt.
Das Publikum ist längst so weit gebracht worden, zu glauben, dass sie nicht tot ist, und so erwartet man die schreckliche Szene ihres Erwachens im Grab. Als diese endlich kommt, ist man verblüfft, mit welcher fast schon sadistischen Missachtung der kollektiven Zuschauererwartung sie sie realisiert ist. Es ist Nacht, und die Kamera fährt langsam die leichte Steigung zu dem Grabgewölbe hinauf, in dem der Sarg ruht. Die Musik schwillt an zu einem Crescendo; das Publikum wartet voller Spannung auf den unvermeidlichen Schrei oder das Geräusch des aufbrechenden Sargholzes. Doch plötzlich ist Stille, abgesehen von dem Geräusch tropfenden Wassers, einem Geräusch, das seinerseits die Konzentration des Zuschauers beansprucht, ehe es identifiziert werden kann. Die Kamera bleibt einen Augenblick stehen: Jetzt wird es sicher gleich passieren. Vielleicht hat sich die Frau schon aus dem Sarg befreit und die Pforten des Grabes werden gleich aufspringen. Ob sie wohl durch das Erlebnis verrückt geworden ist? Die Zeit reicht gerade für solche Mutmaßungen, und dann beginnt die Kamera, wieder zurückzugleiten. Also passiert doch nichts; der Schock wird wohl aufgespart für eine spätere Szene.
Die Spannung des Publikums löst sich, und in diesem Moment – als ob die Reaktion mit der Stoppuhr abgepasst wäre – passiert es. Man hört einen Schrei aus dem Inneren der Gruft und das Geräusch von an dem Sargdeckel kratzenden Fingernägeln. Doch die Kamera setzt ihren unbeirrbaren Rückzug ohne weiteren Kommentar fort, und die Szene blendet aus.
Die Zuschauer sind nicht nur in einem unbedachten Moment überrascht worden, sondern ihre erneute Spannung wird auch nicht wieder gelöst, denn der Film verrät uns nicht, was geschehen ist.
Wir wissen nur, dass die Frau noch lebt – was wir sowieso schon wussten. Doch diese eine Einstellung ohne ein Element der Bedrohung und ohne eine einzige Person auf der Leinwand, ist zu einem der schauerlichsten Augenblicke der Filmgeschichte geworden.

Diese hochamüsante Passage enthält einen der wenigen Fehler, die dem Filmhistoriker William K. Everson unterlaufen sind. Zu seiner Verteidigung: er schrieb seine Bücher und Artikel zu einer Zeit, als man ältere Filme noch in über die Welt verstreuten Archiven und Privatsammlungen aufstöbern musste, wenn man sich nicht auf sein Gedächtnis verlassen wollte. Und das ging auch nur, wenn die besprochenen Werke überhaupt noch erhalten waren. So schreibt Everson etwa über den bis heute verschollenen Stummfilm „London After Midnight“ und lässt ihn im Vergleich mit dem Remake „Mark Of The Vampire“ schlechter abschneiden.
Seine trügerische Erinnerung an „Isle Of The Dead“ ist ganz großes Kino – im Gegensatz zu der Gruft-Szene, wie sie tatsächlich im Film zu sehen ist.

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